Portugal, einst bedeutende Kolonialmacht, heute Europas atlantischer Sonnenbalkon, hat seit über siebenhundert Jahren sein Territorium nicht verändert. Seine Bevölkerung, einerseits über Generationen von Feudalherren ausgebeutet, blieb andererseits auch lange von vielen negativen Begleiterscheinungen der Moderne verschont — noch vor vierzig Jahren bestand es vorwiegend aus Bauern und Fischern. Erst die »Nelkenrevolution«, die das Land 1974 vom autoritären Regime des Diktators Salazar befreite, gab den Anstoß zur Verwandlung Portugals vom europäischen Armenhaus und exotischem Individualreiseziel zu einer wohlhabenden Volkswirtschaft und einem touristischen Massenziel. In diesem Modernisierungsprozess ging viel Ursprüngliches verloren, gerieten volkstümliche Bräuche und Vorstellungen in Vergessenheit. Ralph Roger Glöckler erzählt in seinem Reisebuch von der engen Bindung der Menschen Portugals an ihr Land und ihr Meer. Es erschien erstmals 1980 und ist nun zum historischen Dokument geworden, das einen sinnlichen Einblick gibt in die Zeit, in der Portugal »Kurs auf die Freiheit« nahm.
Die Journalistin und Schriftstellerin Catrin George Ponciano (bekannt u. a. für den Kriminalroman »Leiser Tod in Lissabon« und den Reiseführer »111 Orte an der Algarve, die man gesehen haben muss«) hat für den Band ein Geleitwort verfasst.
Ralph Roger Glöckler (geb. 1950) studierte in Tübingen u. a. Ethnologie. Er lebt in Frankfurt a. M. und zeitweise in New York. Seit vierzig Jahren ist Portugal eines der zentralen Themen in Glöcklers Werk. Den Azoren widmete er eine eigenständige Erzähltrilogie. Zudem hat er Romane und Erzählungen der portugiesischen Autoren Mário de Carvalho, João Aguiar und — im Elfenbein Verlag erschienen — José Riço Direitinho (»Willkommen in der Finsternis«, 2006) übersetzt.
Ebenfalls lieferbar:
»Das Gesicht ablegen« (2001)
»Mr. Ives und die Vettern vierten Grades« (2012)
»Tamar« (2014)
die Azoren-Trilogie:
»Corvo« (2005)
»Madre« (2007)
»Vulkanische Reise« (2008)
»Ein Reisebuch, wie es sein soll: Es lehrt reisen. Es legt Fährten vor, denen man folgen müsste« (Kurier, Wien)
Wir sind spät dran. Der Taxifahrer trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Er kann auch nichts dafür, dass die Bahnschranken hinter Estarreja unendlich lange geschlossen bleiben. Der Schnellzug aus Porto ist verspätet. Er müsste längst in Aveiro eingefahren sein. Es ist immer dasselbe, stöhnt der Fahrer. Der Zug bleibt aus. Die Schranken werden geöffnet, Gott sei Dank. Also, fahren wir! Je schneller, desto besser. Ich will die Regatta der Tangfischer Moliceiros nicht versäumen, die sich in Torreira auf den Start vorbereitet. Alfredinho hat mich eingeladen, den Kurs auf seinem Boot mitzusegeln. Um ein Uhr mittags sollte ich dort sein. Die etwa zwanzig Kilometer lange Fahrt hinüber nach Aveiro führt durch das flache Land- und Wasserlabyrinth der Ria. Steht der Wind günstig, benötigt das Boot anderthalb Stunden, um die Zielgerade im Canal das Pirâmides unter dem Applaus der Zuschauer zu erreichen.
Ich sehe auf die Tachonadel des Autos. Der Mann fährt, so schnell er kann. Die Straßen sind schlecht und kurvig. Hinter Murtosa werden sie besser. Die flache Landschaft der Ria ist von eigentümlichem Reiz. Bäume begrenzen den Blick, Röhricht, Häuser. Sie wirkt fremd, ausgeliehen, wie ein Geschenk Hollands an den Norden Portugals.
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