1957 erschüttert eine submarine Eruption die Azoren-Insel Faial. Als sich in der Folge ein Vulkan vor der Küste aufbaut und seine Aschefontänen die Insel wie einen Teppich bedecken, verändert sich das Leben dort dramatisch: Die meisten Inselbewohner, verängstigt durch die Naturgewalt, verlassen ihre Heimat in Richtung Amerika, mit dem man schon seit Jahrhunderten durch den Walfang verbunden ist. Zurück bleibt nur ein kleiner Teil der Alteingesessenen. Der Walfang ist aufgegeben, die Küste verlassen, Häuser der Natur übergeben, Ochsenkarren sind nur noch auf verblichenen Fotografien und in den Erinnerungen der Alten zu finden. Die einstige Magie des Ortes kann nur noch in der Phantasie beschworen werden. – Ralph Roger Glöckler hat auf Faial Lavafelder durchstreift und in ihnen Spuren neuen Lebens entdeckt. Er hat mit alten Leuten geredet, die die Insel nie verlassen haben und sich noch gut erinnern können; er ist den Spuren der Ausgewanderten bis nach New Bedfort in Massachusetts gefolgt und hat Naturwissenschaftliches mit Historischem verknüpft.
»Vulkanische Reise« bildet zusammen mit den Erzählungen »Madre« und »Corvo« Glöcklers Azoren-Trilogie.
Ralph Roger Glöckler (geb. 1950) studierte in Tübingen u. a. Ethnologie. Im Elfenbein Verlag erschien — neben der Azoren-Trilogie — bereits der Gedichtband »Das Gesicht ablegen« (2001) sowie die Romane »Mr. Ives und die Vettern vierten Grades« (2012) und »Tamar« (2014).
Ich überquere die Straße, betrete eine kleine, runde Fläche. Der zementierte Boden ist zersprungen, Wurzeln, Gräser wachsen aus den Rissen hervor. Eine Eira, Tenne, auf der Mais gedroschen wurde. Ich dringe in das Dickicht ein, suche die Mauern des Gehöftes, zu dem die Tenne gehört. Es dauert nicht lange, bis ich sie finde. Das von dschungelhaften Farnen verschlungene Innere einer Ruine. Dann gehe ich über die Weide. Wiederkäuende Kühe beäugen den Fremden. Ich entdecke Reste einer Atafona, den schwarzen Schlund einer Zisterne. Die Neigung des Hanges übt ihre eigene Schwerkraft aus. Ich gerate in den Bann der einige hundert Meter entfernten Küste, wandere durch das kräftige Gras, vorbei an kolossalen Kuhfladen, schlage mich durch Röhrichtbarrieren, bis der Boden sandiger wird, dürrer, aschiger … Ich beschleunige meine Schritte, durchquere ein letztes Röhricht, das den Blick auf das schwärzlich-rotbraun schimmernde Aschefeld freigibt, in dem ich, endlich heraustretend, Dachfirste erkenne, Scherben rötlicher Ziegel, die in der Schwärze schwimmen. Die längliche, vom Wind freigeschaufelte Ruine eines Hauses. Ich laufe über verschüttetes Leben hinweg. Meine Füße sinken darin ein. Es versucht, mich hinabzuziehen, aber es sind nur meine Gedanken, die durch die Schichten sandig zerriebener Lava dringen. Ich kann meine Schritte nicht bremsen, gerate ins Rutschen, gleite, um Gleichgewicht ringend, den Hang hinab, sinke neben der Ruine in den lockeren Boden ein. Was war das für ein Leben, über das ich gerade hinweggeglitten bin? Was verbirgt sich unter dem Sand, der über meine Schuhe sprühte und vom Wind hanghin getrieben wurde? Der Vulkan. Die geschwungene Kraterlinie des Schlackenkegels, die sich auf der anderen Seite, dunkel aufragend, aus dem hellen, fast beigefarbenen Tuff des äußeren Walles schneidet. Die Ruine des Leuchtturms ragt davor in die Höhe. Wie der Zeiger einer besoffenen Sonnenuhr. Ich denke an Zé Cunha, taste nach dem Zettel in der Brusttasche meines Hemdes, auf dem ich seine Telefonnummer notiert habe. Ein rotes Auto fährt die Straße nach Porto Comprido hinunter. Ist es ein Reisender, ein Träumer, einer, der dort unten auf die Brocken zerbrochener Lavaströme steigen und stundenlang in das hellgrüne, aufschäumende Wasser des Atlantiks schauen möchte? Umtost vom dumpfen Rhythmus anbrandender Wellen? Von Kühle übergischtet? Ist es ein Angler? Keine Ahnung. Ich will ihm zuvorkommen und gehe die Rampe zum Wasser hinunter.
© 2007 Elfenbein Verlag
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