AKloubert: Selbstmord ohne Hut
Rainer Kloubert:
»Selbstmord ohne Hut«
Dreizehn Shanghai-Moritaten
Mit Illustrationen von Oda Ruthe
1998, geb., 127 S.
€ 16 [D] / € 16,50 [A] / sFr 23,20
ISBN 978-3-932245-23-7
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Buch

Glückliche Mörder, mißlungene Hinrichtungen, ein zerbissener Hodenstrang und ein zerfetzter Buddha – das waren nicht nur triviale Schlagzeilen und Randglossen in chinesischen Gazetten der Jahrhundertwende, sondern erzeugen auch heute noch lustvolle Gefühlsreize des Grauens. Geheimnisvoll-groteske Schauergeschichten stehen hinter den Shanghai-Moritaten von Rainer Kloubert, der als moderner Zeitungssänger die Tradition der einst moralischen Lieder umkehrt: immer in der Absicht zu belustigen, keinesfalls zu belehren. Der unbekannte, eigene Ton seiner kurzweiligen Sensationsminiaturen weist Kloubert neben den Bänkelsängern und ihren literarischen Nachahmern einen einzigartigen Rang zu.

Autor

Rainer Kloubert (geb. 1944 in Aachen) studierte in Freiburg, Tübingen, Hongkong und Taiwan Sinologie und Rechtswissenschaften. Er war u. a. Sprachlehrer an der Militärakademie in Taiwan, Dolmetscher bei einem chinesischen Wanderzirkus und Anwalt in Taipeh. Er lebt in Peking und London.
Im Elfenbein Verlag erschienen bereits:
»Mandschurische Fluchten« (2000)
»Der Quereinsteiger« (2003)
»Kernbeißer und Kreuzschnäbel« (2007)
»Angestellte« (2008)
»Roons letzter Flug« (2009)
»Peitaiho« (2012)
»Yuanmingyuan« (2013)
»Peking« (2016)

Auszug

Selbstmord ohne Hut

Die Polizei stellt Nachforschungen an
über einen Selbstmordfall
ein Unbekannter der irgendwann
in der Nacht in die Fluten sprang
der rätselhaft und mysteriös erschien
wie auch der Mond der ihn beschien
rund und blau wie ein Aquamarin
auf dem Hut eines Mandarin

Ein Fremder in einem glänzenden Smoking
einen Seidenschal um den Hals geschlungen
mietete eines abends im Mai
das Hafengeläut war gerade verklungen
in der Hitze die schwer wie Blei
über dem Hafen von Shanghai hing
und auf der Stadt mit ihrem Geschrei
gegen elf Uhr an der Kiukiang Mole
dem Ladeplatz für Bunkerkohle
einen Sampan um nach Pootung zu fahren
er erbot sich die Fahrt im voraus zu zahlen

In der Nähe des Brückenkahns
nahm der Mann seinen Hut vom Kopf
der schief und verwegen auf ihm saß
legte ihn mit seinem Schirm
dem Seidenschal den er abgestreift hatte
und einem Schein über zwanzig Dollar
auf die unruhig schwankende Bank
schaute auf seine Armbanduhr
Uhren die man am Handgelenk trägt
gehen immer etwas zu spät
schritt dann an das Schanzkleid des Kahns
während der Boden schon unter ihm wankte
als ob er von dort den Schein des Mondes
der gleißend über dem Wasser hing
und der Fähre zu folgen schien
aus der Nähe bewundern wollte
klatschte noch einmal laut in die Hände
mit einem Schrei der sich langsam schloß
und sprang dann in die Wellen hinein
wie zu einem Stelldichein
wo auch der Mond sich taumelnd bewegte
als der Fremde immer noch lebte
bevor er wieder zur Ruhe kam
um den noch immer schaukelnden Kahn
in den dunklen und spiegelnden Wogen
auf denen ein Postschiff den Hafen verließ
als ob das ganze nach Plan verlief
wie in einem Abschiedsbrief

Der Fährmann und die Besatzung des Kahns
die mit dem Rudern innehielten
als ob sie Nebenrollen spielten
starrten erschrocken in die Fluten
nach einer Spanne von zwei Minuten
hörte man das Postschiff tuten

Er hatte vermutlich Gewichte bei sich
da er so rasch und spurlos verschwand
in den Taschen des glänzenden Smokings
die ihn nach unten gezogen hatten
nach dem Sprung über seinen Schatten

Anhaltspunkte wer er denn war
oder die Umstände die ihn bewegten
diesen schwierigen Schritt zu tun
eigentlich schien er ganz opportun
wurden bis heute nicht gefunden
sieht man von einer Geschäftskarte ab
die in dem Band seines Hutes steckte
der auf dem Sitz immer noch lag
neben dem Schal der silbern glänzte
und den Namen Lidderdale trug
vorne auf seinem Sitz am Bug
über den eine Welle schlug
vergilbt und an den Ecken verbogen
als sei die Karte ihm noch gewogen
zuvorkommend und wohlerzogen

© 1998 Elfenbein Verlag

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