Jedes Wort ein Bohrloch zu den Wurzeln
Tisma beschließt seine Chronik der "abgelagerten Ereignisse" / Von Volker Doberstein
In: metamorphosen 26 (1999), 15.

Zuerst die schlechte Nachricht: Aleksandar Tisma schreibt nicht mehr. Er habe alles gesagt; zumindest aber alles geschrieben, was zu schreiben war. (Glücklich der Autor, der das von sich zu sagen weiß.) Bliebe die gute Nachricht: Für den deutschen Leser gibt es noch manches zu entdecken von diesem Autor. Teil dieser Guten Nachricht der literarischen Art ist der bereits 1983 im Original erschienene Roman Treue und Verrat, der Tismas Pentateuch über das Leben in, mit und nach der Schuld abschließt. Nur lose miteinander verknüpft, repräsentiert jedes dieser fünf Bücher die große europäische Literatur. Und zumindest zwei weitere Konstanten lassen sich ausmachen: die handwerkliche Meisterschaft und die Verortung der Geschichten (geographisch: Novi Sad; geistig: die Heillosigkeit der Welt). Treue und Verrat erzählt rückblickend aus der Perspektive des Jahres 1962 – gibt es eigentlich ein trostloseres Datum? – die Geschichte von Sergije Rudic, einem Juristen, der als Redakteur und Zensor von Kitschromanen sein Dasein fristet. Vor allem aber ist dieser Rudic ein Überlebender. Ein Schicksal, das Tisma all seinen Protagonisten als tickende Zeitbombe eingeschrieben hat.

Als Widerstandskämpfer nach einer im Grunde sinnlosen Aktion verhaftet, als Häftling einen Aufstand initiiert, den seine Frau mit dem Leben bezahlt, gemordet, geflohen, Vater einer behinderten Tochter geworden, schließlich eine aussichtslose Affäre begonnen und dafür den einzigen Freund geopfert – nein, dies ist kein fröhliches Buch. Aber ein kluges. Einmal mehr erweist sich Aleksandar Tisma als Großmeister der "abgelagerten Ereignisse, welche die Erinnerung hervorholt, um sie an den Nichtbeteiligten, Beurteilenden weiterzugeben". Er beherrscht die schwierige Kunst, das Neue im Alten sichtbar zu machen. Themen, die wir erschöpfend behandelt glaubten, gibt er ihre Unerschöpflichkeit und damit ihren Schrecken zurück. Dabei ist Tismas Vorgehensweise ebenso einfach wie wirkungsvoll: Er enthält sich einfach jeder ordnenden moralischen Bewertung und installiert statt dessen Leben als antagonistisches Prinzip im herrschaftsfreien Raum – nicht umsonst stehen die Begriffe Treue und Verrat im Titel unauflösbar nebeneinander.

Nur einmal deutet sich so etwas wie Trost an, wenn nämlich Sergijes Freund Eugen über seine geliebten Bücher sinniert, über "Worte, deren jedes ein Bohrloch zu den Wurzeln ist". Zertrümmert wird diese Illusion schließlich mit einem einzigen Wort. Und zwar bezeichnenderweise mit jenem, mit welchem Eltern für gewöhnlich ihre Kinder zur Ordnung rufen: "Genug!"

Was Tisma vorführt, ist ein grundsätzlich heikler, hier jedoch mit größter Souveränität gehandhabter suggestiver Dokumentarismus, der den Leser bisweilen ohne Vorwarnung und ohne jede moralische Unterstützung in Grenzbereiche stößt. Ungeheuerlich, wie Tisma in die gewissermaßen noch nässende Wunde einer fortgesetzten Massenvergewaltigung den ersten Beischlaf eines der Opfer mit dem späteren Ehemann einschiebt wie einen metallischen Pflock.

Am Ende der Vergewaltigungsszene übrigens steht einer jener Sätze, angesichts derer man aufschreien und dieses unerträglich gute Buch gegen die Wand werfen möchte. Den Blick auf die von blauen Flecken und Bißwunden verunstalteten Frauen gerichtet, heißt es lapidar: "Aber regelmäßige Ernährung, Sauberkeit, Arbeit gaben ihnen ihr früheres Aussehen zurück." – Und wir stehen fassungslos vor der paradoxen Erkenntnis, daß der Mensch manchmal mehr erträgt als der Leser.

Aleksandar Tisma: Treue und Verrat. Aus dem Serbischen von Barbara Antkoviak. München/Wien: Hanser, 1999. Geb., 303 S., 39 Mark 80.


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