Klassenkampf und zarte Weisen
Dario Fos politisches Theater
/ Von Clemens Mackrodt
In: metamorphosen 26 (1999), 6-8.
Im Jahr 1950 war Rudi Schurike noch von der großen Sehnsucht nach dem großen Urlaub in der fremdländischen Idylle ergriffen. Seien es die Capri-Fischer, die ihm den Wind in die Segel seiner heißen Liebe bliesen, sei es der verträumte Lago Maggiore – seine Zuhörer im Nachkriegsdeutschland waren hingerissen und nur einen kleinen Schritt davon entfernt, die Badehose und das kleine Schwesterlein im Gepäckabteil zu verstauen: "Laß uns träumen vom Lago Maggiore, wo das Glück Deine Wünsche erfüllt, zarte Weisen erklingen … weil Dein Sehnen wird endlich gestillt …"
Dario Fo, geboren 1928 in Sangiano am Lago Maggiore, ist sich über eine Sache gewiß: Alles beginnt dort, wo man geboren ist. Die "zarten Weisen", von denen auch Rudi Schurike als deutscher Urlauber etwas mitbekommen haben muß, erklangen bereits in seiner Kindheit: Sein Vater, Eisenbahner und Amateurschauspieler, die Mutter aus einer Bauernfamilie und der Onkel, von Beruf Gemüsehändler, leidenschaftlicher und allseits bekannter fabulatore machten Dario Fo mit den Erzählweisen Oberitaliens bekannt. Was ihn hier als Kind an volkstümlichem Theater- und Erzählgut entgegenkam, sollte später in seinen Werken immer wieder auftauchen. Nach 15 Jahren am Liceo artistico in Brera studiert er Architektur am Politecnico. Kurz vor dem Examen bricht er sein Studium ab.
1950 trifft Dario Fo auf den Schüler des Piccolo Teatro di Milano, Franco Parenti. Von ihm lernt er das Handwerk des Schauspielers. Mit Franco Parenti unternimmt er dann auch für einige Wochen eine Tournee durch die oberitalischen Provinzen. Im selben Jahr trifft er Franca Rame, eine Schauspielerin aus einer oberitalienischen Komödiantenfamilie. Ein paar Jahre später sind sie verheiratet. Doch Dario Fo verträumt seine Energien nicht in deutscher Urlaubsromantik an heimischen Sandstränden, sondern läßt sich 1952 ganz in Mailand nieder. Zusammen mit Franca Rame gründet er 1958 die Theatergruppe La compagnia Fo–Rame, für die er als Schauspieler, Regisseur und Autor arbeitet.
Im Revolutionsjahr 1968 blickt Dario Fo auf seine bisherige Theaterpraxis (die immer Arbeit im Kollektiv gewesen ist) kritisch zurück. Er bemerkte, daß das Bürgertum ihn längst zu seinem Hofsänger und Unterhalter gemacht hatte, und befürchtete, es könnte ihn zum Komplizen seiner Ideologie anstellen. Dario Fos intensive Beschäftigung mit Benjamin, Plechanov und Lenin eröffnete ihm eine neue Perspektive des Theaters: die des teatro popolare oder teatro politico. Neue Ansprechpartner sollten nach dieser Theaterkonzeption die Arbeiterklasse, bäuerliches Proletariat, Angestellte – also die 99,5 %, die bis dahin sein Theater nicht besucht hatten – und die Intelligenz werden.
Die Idee eines Klassentheaters zog bis dahin unerschlossene Themenbereiche nach sich: Grundsätzliche gesellschaftliche Widersprüche und soziale Mechanismen des kapitalistischen Systems wurden nun auf dem Boden einer marxistischen Analyse zur Bühne gebracht. Sollte dieses Theater zwar auch divertimento verheißen, so war doch – ganz im Sinne Brechts – eine Erkenntnisleistung mit anschließender politischer Bewußtseinsbildung und -veränderung beim Publikum das eigentliche Ziel Dario Fos. Das Erstaunliche und Verwirrende an Dario Fos Theaterstücken ist: Politik kann auch Spaß machen. Staatlich subventionierter Klassenkampf oder ein "Theater im Theater" konnte und durfte das nicht sein. So gründet Dario Fo 1968 in einer Vereinigung von Schauspielern, Theatertechnikern und Sängern das alternative Theater Nuova Scena, finanziert von der kommunsitischen Partei Italiens. Nach dessen durch staatliche Repressionsmaßnahmen forcierten Auflösung gründet er schließlich die sich selbst finanzierende Theatergruppe La Commune, welche ihre Bühne in einer alten Fabrikhalle der Mailänder Vorstadt hatte.
Im teatro popolo von Dario Fo kamen die Einflüsse der italienischen Farce des 19. Jahrhunderts, des modernen Varietés und der Commedia dell' Arte zur Geltung. Die Vorstellung Benedetto Croces, daß die poesia del popolo eine Sache trivialer mechanischer Wiederholung und Imitation sei, daß das Volk sich nicht über das Banale und Vulgäre in seinen künstlerischen Ausdrucksformen erheben könne, erklärt Fo für nichtig. Allein seine literarische Herkunft widerlegt diese These. Dario Fos Suche nach der Geschichte eines Volkes, die im Kontrast zu derjenigen Geschichtsschreibung steht, die von den Herrschenden gemacht ist, stößt somit auf die künstlerischen Ausdrucksformen, in denen sich diese Volksgeschichte abbildete. Die poesia giullaresca wird zum Inbegriff des politischen teatro popolare Foscher Prägung. Für ihn war und ist das Theater die ursprünglichste Ausdruckskraft des Volkes: Il teatro era il giornale parlatio e drammatizzato del popolo – das Theater ist die gesprochene und dramatisierte Zeitung des Volkes gewesen. Das Mistero Buffo (1969) ist in dieser Hinsicht wohl Fos gelungenstes Theaterstück. In den misteri buffi des Mittelalters hatte das Volk die Gelegenheit, der Kirche, der Nobilität, den Machthabenden und Reichen den Prozeß zu machen. Die Ironie und das Groteske, deren sich das Volk bediente, blieb freilich nicht an Äußerlichkeiten einer heutigen Comedy-Fernsehshow hängen. Ein bitterer Nachgeschmack im Bewußtsein der herrschenden Klasse mußte da augenscheinlich hängengeblieben sein: Viele der Akrobaten und Schauspieler kamen in ganz unmysteriöser Weise (nämlich auf dem Scheiterhaufen) ums Leben. Die misteri buffi wurden nach und nach wegen ihres revolutionären Inhaltes verboten.
Der Protest blieb auch zu Dario Fos Zeiten nicht aus. Bei der Ausstrahlung des Mistero Buffo 1977 im italienischen Fernsehen z. B. protestierte der Papst bei der italienischen Regierung wegen Gotteslästerung. Die Geschichte einer Tigerin (1981) von Dario Fo kann als eine Fortsetzung des Mistero Buffo gewertet werden. Dario Fo zeigt in diesem Buch den Ausweg aus einer hoffnungslosen Situation, denn es soll "das Positive in den Vordergrund stellen und stützt sich auf Hoffnung". Gleichgültig, ob es sich um die Fabel von Ikarus und Daedalus, die Tigergeschichte oder Isaaks Opfer handelt: Immer geht es um die Möglichkeit und die Fähigkeit der Unterjochten Widerstand zu leisten, um das Verbot, die Augen aus Bequemlichkeit oder Autoritätsglauben vor dem Elend der Menschen zu verschließen. Manchmal geben sich die Theaterstücke etwas moralisch und lassen an einigen Stellen Sartres Postulat der littérature engagée in krasser Form hervorscheinen: Dann heißt es, im Dienste der Menschheit mit den Händen in den Dreck, die Scheiße und das Blut zu greifen, um sich letzten Endes eine humanere Gesellschaft zu erschaffen. Doch der sarkastische, derbe und in allen Punkten so treffende Stil Fos läßt diese Inhalte nicht zu Brechtschen Lehrstückweisheiten verkommen. Dario Fo ist niemals als jemand aufgetreten, der die Wahrheit schon in der Tasche hat.
In dem Theaterstück Einer für alle, alle für einen! Verzeihung wer ist hier eigentlich der Boß? von 1971 hat man es mit Fos teatro didattico zu tun. Es soll "dadurch lehren, daß es gespielt wird und nicht dadurch, daß es gesehen wird". Die Anregung zu dem Stück kam aus dem Publikum selbst. Dieses Lehrstück wurde wiederum in der Commune im Kollektiv erarbeitet. Ein kleines Stück der italienischen Arbeiterbewegung aus den Jahren 1911 bis 1922 sollte zum einen als Rückbesinnung auf jene historischen Ereignisse, zum anderen als Gleichnis für die Lage in Italien um 1970 dienen, für den um sich greifenden Einfluß faschistischer Kräfte, die zunehmenden Repressionen des Staatsapparates, das Schwanken der kommunistischen Partei und der Gewerkschaften zwischen Reform und Revolution. Allerdings erscheinen Liedtexte wie "Die Macht der Unternehmer ist tausend Jahre alt. Die bürgerliche Klasse, sie ist am Ende bald. Nein, nein, Genossen, dreimal nein. Der Kampf, der hört nicht auf!" etc. zur Jahrtausendwende hin als etwas antiquiert.
Aber nicht nur historische Ereignisse, sondern auch konkrete Tatsachen interessieren Dario Fo, so z. B. im Theaterstück Zufälliger Tod eines Anarchisten. Die Person eines Verrückten. Der Verrückte verstrickt die Polizisten in ihren Aussagen in Widersprüche: Daß Pinelli die Bombe, die am 12. Dezember 1969 in der Landwirtschaftsbank am Piazza Fontana in Mailand explodierte, gelegt haben soll, wird im Verlauf des Stückes immer unwahrscheinlicher und wirkt am Ende absurd. Damals kam es nach dem Attentat in der Öffentlichkeit zu Aufrufen gegen den linken Terror und linken Extremismus. Der angebliche Selbstmord Pinellis wurde als ein Eingeständnis seiner Schuld bewertet. Später sollte sich herausstellen, daß Faschisten in Zusammenarbeit mit der Polizei, dem Geheimdienst und mit großzügiger Förderung des Schwerindustriellen Monti die Bombe gezündet hatten. Das Attentat erwies sich nun als Blutbad des Staates, la strage di stato. Die Verschwörungstheorie wandte sich in ihr Gegenteil um. Kritik erntete er dafür nicht nur von konservativen, reaktionären Kreisen, sondern auch von den Kommunisten.
Schon ein Blick auf die Titel anderer Theaterstücke wie Stiehl ein bißchen weniger, Die Frau zum Wegschmeißen, Mama hat den besten Shit, Bezahlt wird nicht, Nur Kinder Küche Kirche, Offene Zweierbeziehung geben zu verstehen, daß Dario Fo kein brisantes Thema in seinem Schaffen ausgelassen hat und es trotzdem viel zu lachen gibt.
Die geringste Zeit verbrachte der Pantomime, Schauspieler, Regisseur, Fernsehstar und Stückeschreiber Dario Fo am Schreibtisch. Seine Werke veränderten sich von Aufführung zu Aufführung. Improvisation nach festen Regeln war nicht nur zugelassen, sondern ausdrücklich erwünscht. Die Leseausgabe seiner Stücke täuscht leicht über diese Tatsache hinweg. Das Publikum wurde immer in seine Stücke mit einbezogen. Anschließende Diskussionen im Theater waren der Regelfall. Verhaftungen, Diskriminierung, Verbot und Zensur von über 30 Theaterstücken gehörten leider auch zur Regel. Der Nobelpreis für Dario Fo 1997 wirkt da wie eine wohlverdiente Rente des Theatermanns für zarte Weisen und gestilltes Sehnen.
Dario Fos Werk ist auf deutsch im Rotbuch Verlag und im Verlag der Autoren erhältlich.