Im Herbst des Lebens, des individuellen wie des kollektiven, sind die Gefühle gemischt. Also voller Widersprüche. Glück und Trauer, Hoffnung und Angst, Liebe und Hass, Dankbarkeit und Zorn — Gründe gibt es für das eine wie das andere, oft zur gleichen Zeit. Gedichte sichten da nicht, sie schlichten nicht, sie richten nicht. Sie sprechen nur aus — in der Sprache von Rhythmus und Klang, die ihre Deutlichkeit aus einer spielerischen Offenheit gewinnt, in der nichts zur Eindeutigkeit erstarren muss. Darin kann Befreiung liegen.
Hans Krieger (1933–2023), lebte in München und Landshut. Er hat sich zunächst als Kulturjournalist einen Namen gemacht, bevor er seine lyrische Potenz entdeckte. Für seine publizistische Arbeit wurde er 1997 mit dem Friedrich-Märker-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: »Namenlot« (2017), »Birkenlicht« (2015), »Apfelfall« (2010) und »Nachtflügel« (2007). Auch als Lyrik-Übersetzer ist er hervorgetreten (Paul Verlaine: »Poèmes — Gedichte«, Marceline Desbordes-Valmore: »Tag des Feuers« und zuletzt Gabriele d’Annunzio: »Alcyone«, mit Ernst-Jürgen Dreyer und Geraldine Gabor, Elfenbein 2013).
Herbstblatt
Vergoldet ist es schon
dies Blatt und glänzt
wie all die andern
die noch oben sind
aus einem ausgedünnten Himmel
es zittert leicht
zärtlich umspielt vom Wind
wann löst es sich vom Zweig
nicht um zu fallen
nein zu schweben
und gleitend dann herabzusinken
geräuschlos und
ganz langsam zu den vielen
die schon liegen
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