Striptease mit Klarinette
Ein Rückblick auf das Jahrhundert des Jazz / Von Volker Doberstein
In: metamorphosen 28 (1999), 22-25.


Was ist das? Eine schwindsüchtige Gestalt, Norweger-Pullover, Dreitagebart, trichterförmige Zigarette hinterm Ohr, sitzt selbstvergessen da und wippt mit dem rechten Fuß im Takt. – Richtig! Das ist Jazz. Genauer: jener Satz, mit dem Generationen von Eltern ihre Kinder vor dieser ‚Negermusik' gewarnt haben. Vergeblich ...

Der Jazz ist so alt wie das Jahrhundert. Und genauso alt ist der Streit darüber, wer ihn denn eigentlich "erfunden" hat. Am lautesten "Hier!" gerufen hat der Pianist Jelly Roll Morton. Morton, der sich zuvor in so illustren Berufen wie Zuhälter oder Boxpromoter versucht hat, modifiziert im Jahre 1902 den hölzernen Rhythmus des Ragtime, einer um die Jahrhundertwende in den USA sehr populären Unterhaltungsmusik. Damit beeinflußt er zwar den frühen New Orleans Jazz, begründet ihn aber nicht.

Auch Nick LaRocca, Kornettist und Leiter der Original Dixieland Jazz Band, reklamierte die so geschichtsträchtige Vaterschaft in Sachen Jazz für sich. Bis ins hohe Alter schmollte er: "Ich bin es, der den Jazz erfunden hat. Die Neger haben mir meine Musik geklaut." Umgekehrt wird ein Schuh daraus: LaRocca hatte die neue Musik der Schwarzen in New Orleans gehört und daraufhin mit seiner weißen Tanzkapelle die erste Schallplatte in der Geschichte des Jazz eingespielt. Das war 1917. Die Platte verkaufte sich über eine Million Mal.

Der Wahrheit von der Erfindung des Jazz dürfte wohl die folgende Theorie am nächsten kommen: Der massenhafte Zuzug bessergestellter Weißer in den amerikanischen Süden führt Ende des 19. Jahrhunderts dazu, daß sich regelrechte Ghettos bilden, in welchen Schwarze, Kreolen, Hispanos und Latinos auf engstem Raum zusammenleben. In diesem nicht eben günstigen sozialen Klima entsteht eine eigentümliche musikalische Subkultur, in welcher Blues, Spiritual, Ragtime, Blasmusik und afrikanische Rhythmik nach und nach zu dem zusammenfließen, was man als die Frühform des Jazz bezeichnen könnte. Kultiviert wird dieser Stil auf den Straßen und in den einschlägigen Etablissements von Storyville, dem Rotlichtbezirk der Metropole New Orleans.

Wie und warum sich dafür die Bezeichnung Jazz einbürgerte, wird wohl nie ganz zu klären sein. Schon die Herkunft des Begriffes ist umstritten. Fest steht: Um die Jahrhundertwende taucht der Begriff "Jass" plötzlich in der amerikanischen Sportberichterstattung auf, wo er soviel wie "Omnipotenz" oder "unerschöpfliche Energie" meint. Seine Wurzeln dürften jedoch in den deftigen Liedtexten der afroamerikanischen Populärmusik jener Tage liegen. Reimer von Essen, Leiter der Barrelhouse Jazzband, bringt es auf den Punkt: "Wenn man ‚Jazz Music' mit ‚Bumsmusik' übersetzt, kommt man dem damaligen Sprachgebrauch ziemlich nahe."

Wie sehr bereits der frühe Jazz mit den am klassischen Klangideal geschulten Hörgewohnheiten insbesondere der Europäer gebrochen haben muß, veranschaulicht eine in Musikerkreisen gern erzählte Anekdote: Maurice Ravel, der Komponist des Boléro, besuchte Anfang des Jahrhunderts die Vereinigten Staaten. Eines Abends fand er sich in einem der damals boomenden Jazzclubs wieder, wo ein offenbar grandioser Trompeter aufspielte. Einer Gewohnheit folgend, schrieb Ravel die Noten mit. Später legte er seine Aufzeichnungen einem klassischen Trompeter vor und bat ihn, das Stück zu spielen. Der Mann betrachtete die Noten, schüttelte den Kopf und protestierte: "Unmöglich! Das kann man nicht spielen!"

Dabei liegen Jazz und klassische europäische Musik in melodischer wie harmonischer Hinsicht gar nicht so weit auseinander. Sieht man einmal von den sogenannten Blue Notes ab, den schwermütigen, traurigen Tönen des Jazz. Sie kommen zustande, indem vornehmlich die dritte und siebte Stufe der Tonleiter ein wenig zu tief intoniert werden. Durch die konstitutive Bedeutung des Rhythmus hingegen hebt sich der Jazz deutlich von der europäischen Musiktradition ab. Dabei dominiert anfänglich der militärische Two-Beat-Rhythmus, mit Betonung auf dem ersten und dritten Taktschlag. Später wird der Rhythmus gelockert, indem die Offbeats, also die schwachen Taktschläge betont werden. Der Rhythmus wirkt nun weniger pointierend als fließend und verbindend.

Im modernen Jazzschlagzeugspiel wird die Emanzipation des Rhythmus noch weiter getrieben. Die rhythmische Basisarbeit findet nur noch auf den Becken statt, während auf High-Hat, Snaredrum, Tom-Tom und Baßtrommel nicht selten hochkomplexe polyrhythmische Klanggeflechte erzeugt werden. Dies kann, wie im Falle von Elvin Jones oder Tony Williams, so weit gehen, daß der Beat frei, das heißt ohne eindeutigen Bezugspunkt ist.

Das Herzstück des Jazz jedoch war, ist und bleibt die Improvisation. In ihren Anfängen zeigt sich die jazztypische Solomelodik penibel an die Harmoniefolge des Ausgangsmaterials gebunden. Erst der Bebop bringt den Musikern die Freiheit, die zugrundeliegenden Harmonien zeitweise verlassen zu können und gegen den Rhythmus zu spielen. In den sechziger Jahren verliert das akkordische Improvisieren weiter an Bedeutung. Freiere Formen setzen sich durch: die modale Improvisation, die auf festgelegten Tonfolgen, sogenannten Modi, beruht, und die freie Improvisation, die die gängige Improvisationslehre auf den Kopf stellt, indem die Melodie die Harmonik bestimmt statt umgekehrt.

Wie Kunst im allgemeinen ist Jazz work in progress, ein ständiges Hinterfragen und Erweitern tradierter Formen und Inhalte.

Die ersten Jazzbands stehen noch ganz in der Tradition der populären Marschkapellen: Bläser und Schlagzeug dominieren. Hinzu kommen zumeist ein Klavier und diverse Saiteninstrumente. Gespielt wird kantige Ensemblemusik, aufgepeppt durch eher spärliche, emblematische Improvisationen.

Seinen Höhepunkt erreicht der sogenannte New Orleans Jazz in den zwanziger Jahren – und zwar in Chicago! Die Industriemetropole des Nordens zieht viele arbeitssuchende Schwarze aus dem Süden an. Ihnen folgen einflußreiche Musiker wie Joe "King" Oliver. Der holt im Jahre 1922 einen jungen Trompeter in seine Creole Jazz Band: Louis Daniel Armstrong. Ein Meilenstein in der Geschichte des Jazz, wie sich bald zeigen sollte.

Denn mit seiner Kraft und seinem Einfallsreichtum bricht der begnadete Solist Armstrong das vorherrschende Ensembledenken auf und etabliert das Solospiel als konstitutives Merkmal des Jazz. "Satchmo" Louis Armstrong ist ein Ausbund an Energie. Als er 1923 mit Olivers Band zu Aufnahmen ins Studio geht, stellt er sich fünf Meter hinter den übrigen Gruppenmitgliedern auf, um mit seinem mächtigen Ton die Balance nicht zu zerstören.

Mitte der zwanziger Jahre verlagert sich die Jazzszene nach New York, wo bald eine Revolution vorbereitet wird: der Swing. Als Katalysator dieses Vorgangs wirkt wiederum Louis Armstrong. Inspiriert durch dessen Improvisationsstil entwickeln Fletcher Henderson und sein Arrangeur Don Redman den swingtypischen Big Band-Sound. Dabei wird das Orchester in einzelne Sektionen verwandter Instrumente unterteilt, die sich zeitweise nach Art des aus Spiritual und Blues bekannten call and response gegenüberstehen.

Wiewohl von schwarzen Musikern entwickelt, bedarf es eines Weißen, um dem Swing zum Durchbruch zu verhelfen. Sein Name ist Benny Goodman. Nach ersten Erfolgen Mitte der dreißiger Jahre, macht er durch seinen triumphalen Einzug in die Carnegie Hall im Jahre 1938 den Jazz salonfähig. Goodman gebührt darüber hinaus das Verdienst, als einer der ersten weißen Bandleader schwarze Musiker in seinem Orchester beschäftigt zu haben.

Die Normalität dieses Jahres 1938 allerdings sieht weniger versöhnlich aus. Die Sängerin Billie Holiday ist mit Artie Shaws Orchester unterwegs. Bis auf Holiday sind alle Musiker weiß. Was zur Folge hat, daß die neben Ella Fitzgerald größte Sängerin der Jazzgeschichte allein im Bandbus essen muß, während die anderen gemütlich im Restaurant sitzen.

Duke Ellington aber, der dieser Tage seinen hundertsten Geburtstag hätte feiern können, prägt den Slogan der Epoche: "It Don't Mean A Thing If It Ain't Got That Swing." Der Duke öffnet den Jazz für symphonische Formen. Und er erreicht ein neues Maß an musikalischer Authentizität, indem er beim Komponieren immer auch an die spezifischen Fähigkeiten seiner brillanten Solisten denkt.

Zu Beginn der vierziger Jahre rückt eine junge Generation von Jazzmusikern nach, die Neues im Sinn hat: größere improvisatorische Freiheiten, getragen von einer vom reinen time keeping befreiten Rhythmusarbeit. Dizzy Gillespie, Charlie Parker und Kenny Clarke sind die wichtigsten Repräsentanten dieses neuen Klangs, des Bebop.

Das bisweilen als schräg empfundene Klangbild des Bebop basiert auf der Ausweitung der traditionell dreiteiligen Akkorde. Am konsequentesten praktiziert dies der Altsaxophonist Charlie "Bird" Parker. Indem er auf die regulären Akkordtöne weitere Intervalle sattelt, verbreitert er das Fundament der Improvisation.

Mit der befreienden Wirkung des Bebop einher geht ein hemmungsloser Drogenkonsum. Unzählige Episoden und Anekdoten zeugen von dieser unheilvollen Allianz. So soll der von seiner Freß- und Drogensucht gezeichnete Charlie Parker auf der Bühne zum Entsetzen der Mitspieler immer öfter fiktive Stücke angekündigt haben, denen er noch dazu so appetitliche Titel gab wie Suck Your Mama's Pussy.

Ende der vierziger Jahre beginnt die große Zeit von Miles Davis. Mit seinem Namen eng verbunden ist der stark zurückgenommene, warme Sound des Cool Jazz, einer Gegenbewegung zum energiegeladenen Bebop.

In der Folge beschäftigt sich Davis – in enger Kooperation mit dem stilbildenden Saxophonisten John Coltrane sowie dem Arrangeur Gil Evans – mit modaler Harmonik und orchestralen Klangmalereien. Mit Kind of Blue nimmt er die wohl einflußreichste Platte der Jazzgeschichte auf. Andere hingegen, allen voran der Saxophonist Ornette Coleman, forcierten eine musikalische Entwicklung, an der sich schon bald die Geister scheiden sollten: den Free Jazz.

Nicht von ungefähr fallen die Anfänge des Free Jazz mit dem Beginn der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zusammen. Die Zeit ist reif für radikale Lösungen. Musikalisch bedeutet dies: intuitive Bezugnahme, kollektive Improvisation mit oft wahllos wechselnden tonalen Zentren. Zwar ist auch der Free Jazz durchaus Regeln unterworfen und keinesfalls musikalische Anarchie, wohl aber eine rational kaum mehr aufzulösende und folglich schwer vermittelbare Form des Musizierens.

Verschiedentlich wurde der Free Jazz gar als Sackgasse bezeichnet. Das ist natürlich Unsinn. Allerdings markiert er innerhalb der Jazzgeschichte so etwas wie den point of no return. Der Free Jazz greift alle im Jazz angelegten Freiheiten auf und spielt sie exzessiv durch. Die Grenzen sind erreicht. Genauer: das musikalische Niemandsland. Nun kann sich der Jazz aus sich selbst heraus nicht mehr weiterentwikkeln. Er braucht mehr denn je Impulse von außen. Der distanzierte Cool und der kryptische Free Jazz vermögen nicht mehr, ein jüngeres Publikum zu begeistern. Dessen Helden heißen Jimi Hendrix, Sly Stone oder Greatful Dead.

Nicht zuletzt aufgrund rückläufiger Plattenverkäufe beginnen Miles Davis und etliche seiner ehemaligen oder aktuellen Bandmitglieder – John McLaughlin, Tony Williams, Joe Zawinul – sich der Rockmusik zu öffnen. Kennzeichen dieser Fusion Music sind der Einsatz elektronisch verstärkter und manipulierter Instrumente, ein ungebrochener Grundrhythmus, eine vergleichsweise schlichte Harmonik, der Einsatz spärlicher melodischer Phrasen und eine oftmals geradezu nebulöse Ästhetisierung des Klangbildes.

Diese neue und nicht selten die Wurzeln aus dem Blick verlierende Fusionsfähigkeit des Jazz ist bis heute prägend geblieben. Die Zeit der großen Entwürfe scheint passé. Dafür schlägt sich nahezu jeder neue Trend innerhalb der Populärmusik ungebremst im zeitgenössischen Jazz nieder: Acid Jazz, Ethno Jazz, Hip Hop Jazz. Daß unter der Rasanz, mit der die neuen Materialien dem Jazz zugeführt und manchmal auch nur mit ihm verwurstet werden, Reflexion und Inspiration oftmals zu kurz kommen, mag beklagenswert sein. Aber keinesfalls besorgniserregend. Jede Offenheit birgt Risiken. Und Jazz ist von einer geradezu dogmatischen Offenheit. Nicht zuletzt daraus bezieht er seine bis heute ungebrochene Faszination.

Wer dieser Faszination einmal erlegen ist, wird immer wieder von ihr eingeholt werden, wie der große Jazzphotograph William Claxton erfahren mußte. Eines Abends, so berichtet er in seinem eben erschienen Bildband Jazz Seen, stahl er sich in Begleitung von Paul Desmond, dem Komponisten des berühmten Take Five, von einem Jazzfestival davon, um sich in der übelsten Gegend von Baltimore eine Striptease-Show anzusehen. Doch kaum hatte sich die Stripperin bis auf den String-Tanga entblößt, nahm sie eine Klarinette zur Hand und bließ unter aufreizenden Gesten den Artie Shaw-Klassiker Nightmare. In diesem Moment, so Claxton, habe er gewußt: "There's no escaping jazz."


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