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José Riço Direitinho: »Das Haus am Rande des Dorfes«
Erzählungen
Aus dem Portugiesischen von Boris Planer
2. Aufl. 2000, geb., 144 S. € 18 / sFr 31 ISBN 3-932245-04-0
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»José Riço Direitinho ist eine der interessantesten Stimmen seines Landes.
Seine Erzählungen führen uns in eine fremde, rurale Welt voller versteckter Symbole, in der atavistische Elemente und Geisterglauben fortleben. Vor dem Hintergrund einer
verschlossenen, in sich gekehrten Gemeinschaft entwirft er seine Geschichten vom Leben, von der Liebe, und vor allem vom Tod.« Wilfried F. Schoeller, Hessischer Rundfunk
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Pressestimmen
»Direitinhos Erzählungen, gruselig gut übersetzt, sind von atemberaubender Einfachheit und Geschlossenheit.
Sie sind Antilegende: Folklore gegen den Strich. Wir werden süchtig nach diesen Geschichten.« Henry Thorau, Die Zeit
»Thematisch barock, ohne ausschweifende Schnörkel, präsentiert Direitinhos rigide Erzählökonomie radikale Taten und Befunde ohne Erklärung.
Direitinho hat nicht nur ›Spaß am Erzählen‹, er kann es - besser als viele.« Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung
»Direitinhos Erzählungen sind durch
die Bank tödlich-surreale Geschichten, die der Portugiese stilvoll und gekonnt erzählt; mitunter erinnern sie an die schaurig-abgründigen Geschichten des Italieners Tommaso
Landolfi oder an die phantastischen Traumderivate des Franzosen Marcel Béalu. Daß dieser Mann ein geborener Erzähler ist, der viel Feinsinn für das Detail besitzt, hat er
hier nachhaltig unter Beweis gestellt.« Thomas Laux, Neue Zürcher Zeitung |
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Textauszug:
Die Luft roch nach geschmolzenen Kerzen
»Die meisten Menschen sterben erst, wenn ihr
letzter Augenblick gekommen ist, andere verbeißen sich schon
zwanzig Jahre vorher in den Tod, und manchmal sogar noch früher.
Sie sind die Unglücklichen dieser Welt.«
Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht
Seit nahezu vierzig Jahren war er jeden Tag am frühen Abend
zu dem alten Olivenbaum auf dem Schulhof zurückgekehrt. An
diesem Olivenbaum erhängte er sich schließlich vor
den neugierigen und entsetzten Blicken der Kinder, die an jenem
unvergeßlichen Nachmittag, an dem die Luft im Umkreis von
zwei Meilen nach geschmolzenen Kerzen und Wollkraut roch, auf
den mit Kot vermischten Urinfleck starrten, der ihm noch eine
Stunde, nachdem er zum letzten Mal gezuckt hatte, die Hosen besudelte.
Er war immer übertrieben parfümiert und vorschriftsmäßig
gekleidet gekommen. Seit vierzig Jahren hatte er jeden Tag eine
frische Kamelie am Revers getragen. »Es sind die einzigen
Blumen, die keinen Geruch haben, deshalb benutzt man sie auch
in den Bordellen«, pflegte er zu sagen, »damit die teuren
Düfte nicht ruiniert werden. Ein verliebter Mann muß
sich immer wie eine Hure anziehen.«
An dem Tag, an dem er sich erhängte, ging er auf den Friedhof
und legte einen vertrockneten Strauß Blumen auf Evas Grab,
die an diesem Tag beerdigt worden war, vormittags, nur wenige
Stunden, bevor die Drosseln sangen, um dann seinen Tod zu verkünden.
Als er vom Friedhof zurückkam, machte er einen Abstecher
in die Taverne. Eine kurze Weile stand er gegen die Theke gelehnt
und drehte nachdenklich das bläuliche Portweinglas zwischen
den Fingern. »Fast vierzig Jahre lang habe ich darauf gewartet,
ihr diesen Blumenstrauß zu schenken«, sagte er, bevor
er hinausging, mit vor Wut zitternder Stimme. »Schade nur,
daß sie ihn erst nach ihrem Tod angenommen hat. Jetzt hat
das Warten keinen Sinn mehr.«
Eva hatte neben der Kapelle gewohnt, einem nahezu verlassenen
Ort außerhalb des Städtchens, wo er lebte. So hatten
sich ihre Wege fast vier Jahrzehnte hindurch nur selten gekreuzt,
und wenn es geschehen war, hatten sie nicht miteinander gesprochen.
Beide hatten gewußt, daß sie dies an keinem anderen
Ort als dem, für den sie sich vor nun vierzig Jahren verabredet
hatten, tun durften. Dem Ort, wo er noch jeden Tag am frühen
Abend auf sie wartete.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie immer allein gelebt, hingebungsvoll
damit beschäftigt, den Heiligen der Kapelle Gewänder
zu nähen oder die Schäden auszubessern, die die Jahre
und die fromme Inbrunst der Prozessionen und der Gelübde
daran angerichtet hatten. Sie tat, was sie nur konnte, um die
Kapelle reinlich und würdig zu halten. Sie wachste den Boden,
polierte das Weihrauchfaß, das Räucherschiffchen und
die Silberleuchter auf dem Hochaltar und wechselte täglich
die Schwertlilien in den Vasen aus, die das Bild der Heiligen
Jungfrau umrahmten.
An dem Tag, an dem sie starb, war sie in aller Frühe aufgestanden.
Sie hatte ein Bad genommen im Holzkübel neben dem Kamin,
in dem noch ein wenig heiße Asche vom Vortag glühte,
die sie im Winter morgens nicht löschte. Nach dem Bad verließ
sie das Haus und ging zur Kapelle. Sie nahm sich für alle
Arbeiten ein wenig mehr Zeit als gewöhnlich, und alles wurde
sauber und rein. Als der Priester kam, fand er sie tot vor dem
Bild der Heiligen Jungfrau. Ihre Hand unklammerte zwei welke Schwertlilien,
und auf ihrem Gesicht lag die gelassene Heiterkeit, die er an
ihr erblickt hatte, als sie vor vierzig Jahren das Treffen auf
dem Schulhof verabredet hatten.
Damals war sie ein fröhliches Mädchen gewesen, das wenige
Jahre zuvor von der Schule abgegangen war. Er hatte sie zwei-
oder dreimal gesehen, wenn sie in das Städtchen herunterkam
und den Nachmittag über stickend im Garten der Großmutter
saß. Nach zwei oder drei schlaflosen Nächten nahm er
allen Mut zusammen und warf den beiden riesigen Hunden, die am
Tor zum Anwesen der Großmutter Wache hielten, ein großes
Stück Fleisch hin, das er in einem Sud aus Wollkraut und
anderen giftigen Pflanzen gekocht hatte. Er wartete einen Augenblick,
dann konnte er hineingehen, ohne aufgehalten zu werden. Er trat
zu Eva, senkte den Blick auf die Höhe ihrer Augen und wußte
sogleich, daß sein schnell gefaßter Entschluß
unabänderlich war. Er zweifelte nicht, daß er dieses
Blau niemals vergessen würde. Sie ließ den Stickrahmen,
an dem sie arbeitete, fallen und wandte ihren Blick ab. Von da
an fühlten beide, daß dies der einzige Augenblick war,
für den sich zu leben gelohnt hatte. »Ich will für
immer bei dir sein, und wenn ich ein halbes Leben lang darauf
warten muß«, sagte er zu ihr, während er den Rahmen
und die Sticknadel vom Boden aufhob. »Ich werde morgen am
Olivenbaum auf dem Schulhof auf dich warten.«
Auf dem Heimweg pflückte er in den schönsten Gärten
des Städtchens einen Armvoll Dahlien, Tulpen, Schwertlilien
und auch eine Rose. Vierzig Jahre später, als er an dem Morgen
des Tages, an dem er sich erhängte, auf den Friedhof ging,
legte er diesen Blumenstrauß, den er über vier Jahrzehnte
in Tränen und Essenzen, die den Verfall aufhalten, aufbewahrt
hatte, auf Evas Grab.
All die Jahre hindurch, in denen er auf sie wartete, weigerte
er sich, das Städtchen zu verlassen - aus Angst, den Augenblick
zu versäumen, in dem Eva sich entschließen würde,
für immer bei ihm zu bleiben. Die Nachricht, daß sie
gestorben war, machte ihn froh, denn er erkannte, daß dies
letztlich die Form war, die das Schicksal ihrer beider Liebe bestimmt
hatte: Seite an Seite würden sie in der Friedhofserde ruhen.
»In ein paar Jahren, wenn wir zerfallen sind«, dachte
er, »wird sich mein Körper mit ihrem vereinigen. Ich
habe immer gewußt, daß das unausweichlich geschehen
würde.«
An diesem unvergeßlichen Nachmittag kleidete und parfümierte
er sich, wie er es immer getan hatte, suchte sich die schönste
Kamelie aus dem Garten, nahm einen Strick und machte sich auf
den Weg. Da fingen in den Gärten ringsumher die Drosseln
an zu singen. »Scheißvögel«, rief er, die
Augen voller Wasser, »daß ihr so lange gewartet habt!«
© 1997 Elfenbein Verlag
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