In einem leerstehenden Haus findet die Herausgeberin ein Typoskript. Sie erinnert sich: »Was sich da vor mir auffächerte, war zweifellos ein Prosa-Text. Ich las hier und da, las ›Fenster auf‹ und ›Fenster zu‹, entsinne mich, dass ich auf ›grellgelb blühende Forsythien‹ stieß, auf ›blanke Messinggriffe‹, auf ›antipodisch weiß‹, auf ›Graugänse‹, wiederholt auf ›Graugänse‹ und immerzu auf Wasser, Bäume, Blätter, auf kahle Bäume, belaubte Bäume, grüne Blätter, welkende Blätter, Wolken und Wolken und Sonne und Sonne. Ich traf auch auf Namen wie Montaigne, Émile Gallé, Franz Kafka, Elias Canetti. Und in einem redundanten Geflecht von immer wieder aufblinkenden Wörtern las ich: Aurora, Fluss, Tastatur, Obama, Eos, Iran, Rosa, Lampe. Ganz zuunterst entdeckte ich drei spärlich beschriftete Blätter: ein Deckblatt, ein Blatt mit Zitaten, ein Inhaltsverzeichnis. Auf dem Deckblatt … ›Aurora-Protokolle‹.«
Ein Jahr lang, von Januar bis Dezember, setzt jemand sich vor Tagesanbruch an das große Ostfenster des weißen Hauses am Fluss und verfolgt, was bis zum Aufgang (oder Nicht-Aufgang) der Sonne am Himmel, auf der Erde und im eigenen Kopf sich abspielt und entwickelt. Vom »Schreibprogramm einer Selbstvergessenheit … am Tropf rosaroter Himmelserscheinungen im frühen Morgengrauen“ ist die Rede. Faszinierend zu beobachten, wie die Herausforderung eines solchen Vorsatzes mit langem Atem in einer nicht abreißenden Verkettung poetischer Protokolle — ruhig, frei, präzise, aufmerksamkeits-intensiv — gemeistert wird. Beschreiben, wie jeder Tag neu beginnt. Zu welchem Ende?
Ursula Menzer, geboren in Baden-Baden, war Kunsthändlerin in Karlsruhe und Hamburg. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und promovierte mit einer Dissertation über Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund seines Kulturbegriffs. Als freie Autorin verfasste sie Aufsätze zum Feminismus, über die Zypresse als poetisches Phänomen, zur Philosophie des Geldes; lektorierte und rezensierte; erkundete die faszinierenden Zusammenhänge von Kochen und Schreiben. Mehr als 30 Rundfunk-Features zu einer breiten Palette von Themen hat sie geschrieben und produziert. Das Buch »ER/SIE« befasst sich in Form konkreter Poesie anhand subtiler Sehtexte mit der Verteilung von ER und SIE in der deutschen Sprache. »Aurora-Protokolle«, für die sie als Herausgeberin zeichnet, ist ihr letztes Buch. Für Auszüge daraus erhielt sie 2013 den Hamburger Literaturpreis. Ursula Menzer lebte in Hamburg. Dort ist sie 2021 gestorben.
Großer Scherenschnitt der Morgendämmerung, durch den ein rosa Schimmer fällt. Langer wolkenloser Horizont der Morgenröte im Osten bis in den Norden. Goldene Sonne steigt hinter dem Dach hervor. Tau aus der Göttin Amphore auf dem Schrägfenster. Details zu illegalen Verhörpraktiken der CIA während der Regierungszeit George W. Bushs werden veröffentlicht; Folter in den USA.
»Was diese Autorin zu sagen hat, gibt Anlass zu großer literarischer Hoffnung.«
(Hamburger Abendblatt)
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