Fünf wichtige Stimmen der zeitgenössischen portugiesischen Literatur kommen in diesem Band zu Wort. Die Texte entstanden während der Berlin-Aufenthalte der Autorinnen und Autoren im Rahmen ihrer von der Botschaft von Portugal / Camões Berlim gewährten Residenzstipendien.
Miguel Cardoso (geb. 1976) ist Lyriker und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände sowie Übersetzungen des englischen Dichters Sean Bonney. 2019 hielt er sich in Berlin auf, wo er an »Passageiros« (»Reisende«; deutsch von Odile Kennel) arbeitete, einer von Postkarten aus unterschiedlichen Epochen und Texten Walter Benjamins, Franz Kafkas und Rosa Luxemburgs ausgehenden poetischen Annäherung an die Stadt Berlin.
Afonso Cruz (geb. 1971) ist Schriftsteller, Illustrator, Musiker und Filmemacher. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher sowie eine fiktive Enzyklopädie. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Literaturpreis. Während seines Berlin-Aufenthalts 2020 schrieb er an einem noch unveröffentlichten Roman, der von einem durch die Berliner Mauer getrennten Liebespaar erzählt. Hier erscheint die Erzählung »Melodias Cruzadas« (»Gekreuzte Melodien«; deutsch von Marianne Gareis).
Isabela Figueiredo (geb. 1963) ist Schriftstellerin und Bloggerin. In ihren 2009 erschienenen Erinnerungen an Mosambik (deutsch unter dem Titel »Roter Staub“, Weidle Verlag 2019) räumt sie mit der Legende von der »sanften« portugiesischen Kolonialherrschaft auf. 2016 erschien ihr preisgekröntes Romandebüt »A Gorda«. Über ihren Berlin-Aufenthalt 2018 entstanden fiktive Briefe an ihren Verleger: »Um anjo sobre Schöneberg« (»Ein Engel über Schöneberg«; deutsch von Marianne Gareis).
Rui Cardoso Martins (geb. 1967) schreibt Romane, Drehbücher, Theaterstücke und Gerichtskolumnen. Sein Werk ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, der Roman »E Se Eu Gostasse Muito de Morrer« (2006) bereits in spanischer, englischer und ungarischer Übersetzung erschienen. Während seines Berlin-Aufenthalts 2017 arbeitete er an seinem medienkritischen Theaterstück »Última Hora« (»Neueste Nachrichten«; deutsch von Niki Graça), das 2020 in Lissabon uraufgeführt wurde.
Patrícia Portela (geb. 1974) ist Schriftstellerin und Performerin. Ihr transdisziplinäres Werk ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden (u. a. durch die Fundação Calouste Gulbenkian). 2016 war sie die erste portugiesische Schriftstellerin, die mit einem Stipendium der Botschaft von Portugal / Camões Berlim in die deutsche Hauptstadt eingeladen wurde. Während ihres Aufenthalts vollendete sie den Band »Dias Úteis« (»Werktage«; deutsch von Dania Schüürmann).
Der Oktober war außergewöhnlich heiß, da hatte der junge Alexander mit seiner ersten von so vielen, schönen Lügen recht, nur beim Land und bei der Jahreszahl irrte er sich.
Ich lag mit verdrehtem Hals auf dem Bettsofa und sah mir im Ersten Programm einen Bericht über die Klimaveränderungen an, eines dieser Programme, die anscheinend für Leute gemacht werden, die der Sprache nicht mächtig sind, die Bilder sagen alles: ein abgemagerter Eisbär, der es nicht schafft, auf einen winzigen Eisblock zu klettern, und gleich darauf riesige Waldbrände, untertitelt mit »Brände in Portugal«. Feuerstürme, ein Flammenmeer, das sich durch den Wald wälzt, Häuser ohne Dächer, ausgebrannte Autos, zugedeckte Leichen auf der Straße.
Ich kenne diese Tragödie von Pedrógão Grande gut, das war im Juli 2017. Am 15. Oktober herrschten dann aber zur Mittagszeit im Zentrum und Norden Portugals bereits 40 Grad, und kurz darauf sollte ich per Telefon erfahren, dass weitere 50 Menschen umgekommen waren. 116 Portugiesen bei lebendigem Leib verbrannt, innerhalb eines Jahres.
Das war … und du liegst auf dem Bettsofa deiner Studentenwohnung in der Neuen Grünstraße in Berlin-Mitte, und im Herzen Europas herrscht ein angenehm milder Herbst, während am Rand des Kontinents die Portugiesen brennen.
Am schlimmsten sind die schlimmen Dinge, wenn du erleben musst, dass sie sich wiederholen.
Doch nun steh auf, zieh dir was an und geh nach draußen. Du sollst eine Komödie über die Krise des Journalismus schreiben, in deinem Stück gibt es eine Zeitung, die kurz vor dem Aus steht, die Journalisten in Panik, die Nerven liegen blank, das macht das normale Leben kaputt und hebelt die Wahrheit aus, da ist der Druck der Aktionäre, die Befriedigung der Sensationsgier, das Internet als Nachrichtendieb — kann die Zeitung überleben, oder hat ihr letztes Stündlein geschlagen? Die Krise herrscht weltweit, und Berlin, die Hauptstadt des Theaters und der Presse, ist der Ort am Puls der Zeit. Du sollst ein Stück schreiben, da kommst du nicht raus.
(Aus: Rui Cardoso Martins: »Ein heißer Oktober«)
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