Emlichheim: kaum ein Ort in Deutschland, der weiter von einer Großstadt entfernt wäre; kaum ein Ort in Deutschland, an dem Einheimische und Flüchtlinge deutlicher spüren könnten, dass es nur eine gemeinsame Geschichte gibt. In einer durch Torfbau und Gasförderung geprägten niedersächsischen Landschaft gelegen — die der Legende nach entstanden war, weil Napoleon seinen Daumen aufs Lineal gehalten hatte, als er die Grenze in seine Feldkarte einzeichnete —, kennzeichnen vier Kirchen unterschiedlicher Konfessionen das Dorf, über das sich Europas wohl größte Kartoffelstärkefabrik erhebt. — David, Spross schlesischer Flüchtlinge, in Emlichheim geboren und aufgewachsen, Kinderarzt in Potsdam, fährt zu Besuch in die Heimat, wo er auf seine Familie und auf seine Jugendliebe Grete trifft, die gerade ein Kind bekommt — aber noch weiß niemand außer ihr, wer der Vater ist. David seinerseits grübelt über den Tod eines kleinen Mädchens auf seiner Station, für den er sich verantwortlich fühlt. — In Rückblenden entwickeln sich parallel dazu die anderen biografischen Zusammenhänge, die wie ein generationenübergreifendes Mosaik zum Thema Flucht erscheinen: die Geschichten um Davids Großmutter, die 1945 aus Breslau floh, die um seine alleinerziehende Mutter, einen schlesischen Flüchtlingspfarrer, einen homosexuellen Landarzt, ein pensioniertes Pastorenehepaar der 68er-Generation und einen lokalen Schweinebauern.
Tobias Schwartz (geb. 1976) lebt in Berlin. Sein Debütroman »Film B« erschien 2007, eine Bühnenfassung hatte 2008 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere. Seine Theaterstücke waren unter anderem am Maxim-Gorki-Theater, am Hans-Otto-Theater, Potsdam, sowie an verschiedenen Berliner Off-Theatern zu sehen. 2014 erschien ein Auszug aus dem Romanmanuskript »Stadtunter« in der Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«. 2013 war Schwartz Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin, 2015 erhielt er das Albrecht-Lempp-Stipendium Krakau. Zuletzt erschien sein Virginia-Woolf-Buch »Bloomsbury & Freshwater« (2017).
»›Nordwestwärts‹ ist ein Roman, wie man ihn lange nicht mehr gelesen hat: unaufdringlich gebildet, auf undogmatische Weise nachdenklich und bei allem Problembewusstsein voller Anmut und Heiterkeit.« (Tilman Krause, Die literarische Welt)
Das Gehöft am Horizont war belebt, es herrschte farbenfroher Betrieb. Sie sahen es schon von weitem. Bestellte Äcker, Kuhweiden — sanfter Nebel, der aufstieg —, fettes, grünes Gras, weißbraune Gänse — es mussten Pommerngänse sein —, ein großes Pferd, das vor einen hochbeladenen Wagen gespannt wurde. Aber auch hier würden sie nicht unterkommen. Die Mutter — blaue Augen, die blonden Haare zu einem strengen Dutt zusammengebunden — spähte in die Ferne und warf auch einen sorgenvollen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie dachte an das Flugzeug, das plötzlich hinter ihren Rücken über einem Tannenwäldchen aufgetaucht und wieder verschwunden war, um zu wenden, um zurückzukommen, sie ins Visier zu nehmen und mit dem Maschinengewehr auf sie zu feuern. Sie hatten sich ins Nadeldickicht geworfen und gesehen, wie es vom Boden des Weges gespritzt hatte, wenn die Salven eingeschlagen waren. Jetzt herrschte Ruhe. Den Fluss hatten sie hinter sich gelassen und den Handwagen im Gebüsch am Ufer unter ein paar Zweigen versteckt. Sicherheitshalber, man wusste schließlich nie. Das Land westlich der Oder bot zwar vorübergehend Schutz und ein wenig Zeit zum Atemholen, es war aber von den Flüchtlingsscharen so übervölkert, dass an eine Unterkunft kaum zu denken war.
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