Kazantzakis’ dichterisches Hauptwerk, das Homers Epen fortschreibt, ist länger als dessen »Ilias« und »Odyssee« zusammen: In 33.333 Versen erzählt es von Odysseus’ neuen Abenteuern, die den Helden über Sparta, Kreta, Ägypten und Zentralafrika bis zum Südpol führen, wo er die absolute Freiheit zu finden vermeint. Anders als den antiken kann den Kazantzakis-Odysseus nichts halten, er ist maßlos und grausam, missachtet alle Grenzen, aber auch stets ein Schöpfer, er ist der universale Mensch der Moderne, der ohne Rechtfertigung und ohne religiöse Bindung sein Leben lebt.
1973 von Gustav A. Conradi in deutsche Verse gebracht, erscheint der Band, jahrzehntelang vergriffen, zum 60. Todestag des Dichters komplett durchgesehen und erstmals in einer zweisprachigen Ausgabe.
Nikos Kazantzakis (1883—1957), als Sohn eines kretischen Gutsbesitzers geboren, studierte Jura in Athen und Philosophie in Paris, wo er über Friedrich Nietzsche promoviert wurde. Sein umfangreiches literarisches Werk ist von zahlreichen Reisen und Auslandsaufenthalten geprägt; in den 1920er Jahren lebte er eine Zeitlang in Berlin. Neben der »Odyssee« (1938) verfasste er Tragödien (u.a. »Theseus« und »Columbus«) und übersetzte Dantes »Göttliche Komödie« sowie Goethes »Faust I« ins Griechische. International bekannt wurde er aber durch seine Romane: »Alexis Sorbas« (1946), vor allem seit der Verfilmung mit Anthony Quinn in der Titelrolle und der Musik von Mikis Theodorakis, prägt bis heute das Bild der Sehnsucht nach einem Griechenland unbeirrter Lebenskünstler. »Die letzte Versuchung« (1951), eine provokative Interpretation der Passionsgeschichte, Jahrzehnte später von Martin Scorsese verfilmt, gelangte auf den »Index der Verbotenen Bücher« des Vatikans.
Gegessen und getrunken, Kinder, habt ihr festlich hier am Strande;
im Tanzen, Lachen, Küssen und im müßigen Geplauder ist
das ganze Fest euch aufgegangen und im Fleisch ists euch versunken.
Mich reißt jedoch der Festrausch, Fleisch und Wein, zu ungeheuren Träumen,
ein Meerlied quillt in mir empor und will, im Schwall, mich niederwerfen.
Lasst mich nun singen, wie mein Herz begehrt, o Brüder, macht mir Platz!
O weh! Das Fest ist weit und groß, jedoch der Raum dafür ist klein;
macht Platz, dass ich mich recken kann, gebt Atemluft, dass ich nicht platze,
dass ich die Beine werfen kann und frei im Tanz die Arme rege
und eure Frauen nicht, die Kinder nicht, verletze in dem Taumel. [...]
Bei Helios schwör ich es und bei der sanften Herrin, bei Selene:
Das Alter ist ein falscher Traum, der Tod ein Fantasiegebild.
Denn alles ist der Seele Werk und des Gedankens Frucht und Spiel;
ein leichter Südwind ist die Welt, er bläst und öffnet unsre Schläfen.
Aus einem Traumspiel — zart und leicht — ist diese unsre Welt geboren.
Lasst uns die Welt mit unsrem Sang, lasst sie uns, Kinder, neu erobern!
O Kameraden, nehmt die Ruder, unser Schiffsherr ist in Sicht,
und ihr, ihr Mütter, gebt die Brust den Säuglingen, dass sie nicht weinen.
Verbannt die bittren Sorgen nun aus Herz und Sinn, spitzt eure Ohren.
Des ruhmreichen Odysseus’ Qualenweg und Leiden werd ich singen!
(Prolog)
»Diese Riesenschöpfung darf als das Schwierigste des ganzen griechischen Schrifttums, vom Altertum bis zur Gegenwart, betrachtet werden.«
(Karl Kerényi)
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