Herold: Ausfahrt
Tobias Herold:
»Ausfahrt«
Gedichte
Mit einem Nachwort von Johannes Pilz
2011, Engl. Br., 96 S.
€ 16 [D] / € 16,50 [A] / sFr 23,20
ISBN 978-3-941184-14-5
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Buch

Die Gedichte dieses Bandes sind Reisegedichte im wörtlichen Sinn: Sie reisen selbst – durch die Zwischenräume unserer Alltagssprache. Frei von Formalismus, raunender Verrätselung oder ironistischer Lakonie sind sie zurückhaltend, verschmitzt und von heiterer Traurigkeit – und mit der Beiläufigkeit und dem Humor, die ihnen eigen sind, lassen sie sich auch lesen.
Wir haben es mit Erfindungen aus Fundstücken zu tun: Material dieser Gedichte sind vorgefundene Dinge und Orte sowie vor allem die stehenden Wendungen und Bilder unseres alltäglichen Sprechens. Diese werden nicht poetisch verfremdet, sondern umgekehrt ganz beim Wort genommen und derart übereinanderbelichtet, dass sie sich auf unerwartete Weise rückverbildlichen.
Unmittelbarkeit und Sprachreflexivität verbinden sich in »Ausfahrt« im Aberwitz eines aus der Tradition herausgefallenen lyrischen Ichs, das verwundert spazierengeht durch eine verwinkelte Großstadt aus Sprache und das ausfährt in »ein ausstaffiertes Nirgends, / wo allen Ernstes Sprosse Wurzeln / schlagen, auf dass einmal ein / Blattwerk sei, welches sich am / Wind berauscht«.
Jenseits von Alltagspoesie folgen diese Gedichte einer Poetik der Verringerung: In ihnen verringert sich zugleich der lyrische Ton und der Abstand, in dem wir uns in der Lebenswirklichkeit zu dem befinden, was wir sagen. Sie sind Ausfahrten ins Unbekannte des allzu Vertrauten.

Autor

Tobias Herold, geboren 1983, lebt in Berlin. Als Autor schreibt er vor allem Lyrik, vereinzelt auch Prosa. Im Elfenbein Verlag erschien 2009 sein Lyrikdebüt unter dem Titel »Kruste«.

Auszug

Obschon sich Athen einen
Dreck für ihn interessiert,
taucht der April dort auch
diesen April wieder auf, ein

schwarzer Müllsack, oben
zugeknotet, unten aufgeplatzt,
in der Gosse platziert wie
so ein hilfloser Torso aus
Marmor im Museum.

(aus dem I. Zyklus)


Kein Signal,
kein klares Bild,
das sich ergäbe,

indem es durch
benetzte Häute dränge,
sich zu trüben;

stattdessen: hüben
ein gegebnes Wort,
das mit sich bricht,

damit sichs drüben
(nein, das ist kein Ort)
widerspiegelt: Augenlicht.

(aus dem II. Zyklus)


Shinjuku:
Ob du dich von einem der Türme aus
in die Oberflächen des Häusermeers
aussichtlos vertiefst oder inmitten
einer Woge von Tatsachen wieder
unter den anderen auftauchst
und dich treiben lässt –
immer ist ein Tiefgang schon zuerst
dagewesen, haben Schmetterlinge
die Kirschblüte zerschmettert,
sind Zweifel und Glaube
Sinn und Täuschung in einem
fort.

(aus dem III. Zyklus)


Herr, es gibt zwei Möglichkeiten,
erstens eine, zweitens keine:
Du hörst jetzt auf, mit mir zu streiten,
oder du kommst mit mir ins Reine.

Dorthin also, wo kein Bild mehr
der Augenblicke Sicht versperrt
aufs Auf und Ab, aufs Hin und Her,
und täglich wird der Müll geleert.

Es gäbe nichts mehr auszuräumen,
schlafen würdest du, ich träumen;
Herr, du hast doch auch gewollt:
Dass die Müllabfuhr uns beide holt.

(aus dem IV. Zyklus)


Der Trick: Das Ungetüm
fliegt nicht allein davon.
Mehrere zehntausend
Sonnen befinden sich in
seinem Schlepptau.

Es ist eine Reise nach
nirgendwo.
Aber zumindest hat es
im Reisegepäck genügend
Sonnen als Futter,
die es vertilgen kann.

(aus dem V. Zyklus)


Der Wasserkocher rauschte
wie die aufgewühlte offne See,
als mir allmählich dämmerte:
„Auch Sterbenswörtchen
sind Lebenszeichen,

es braucht kein Händeringen,
um ins Schwimmen zu geraten,
ein Sprechen, grad noch flüssig,
fast schon Nebel, ja: Dunst,
reicht doch aus.“

(aus dem VI. Zyklus)


Auf einem anderen Blatt
steht: Dieses Blatt hier

hat der Reißwolf
sich geholt mitsamt

dem Herbst, in dem,
und allen Wolken,

aus denen
es gefallen ist.

(aus dem VII. Zyklus)

© 2011 Elfenbein Verlag

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