Paul und Barbara bringt der Zufall zusammen: In der Lebensmittelabteilung eines Warenhauses fällt sie ihm auf, weil ihr Lachen ihn an seine große Liebe Tina erinnert, die tödlich verunglückt ist. Zwei Stunden später sitzen die beiden in einem Restaurant und erzählen ihre Geschichten – allerdings nicht vollständig: Paul spart Tina aus, und Barbara, dass sie auf den Strich geht. Und dann tritt der verwirrte Heinrich, mehr auf U-Bahnhöfen und in Parkanlagen zu Hause, in die junge Beziehung: Barbaras zweite Zufallsbekanntschaft kennt Paul bereits aus der Studentenzeit; damals allerdings ist er noch ein außergewöhnlich begabter Künstler gewesen …
Entlang der Berliner U-Bahnlinie U5 zwischen Alexanderplatz und Hönow erleben diese drei vom Schicksal Zusammengeführten ihre gemeinsame Geschichte – und erzählen aus ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven vom Leben und von der Liebe.
Pol Sax (geb. 1960 in Luxemburg) studierte Philosophie in Heidelberg und Brüssel. Er arbeitete als Barmann und schreibt Glossen und Features für Hörfunk und Tageszeitungen. Von 1991 bis 1996 betrieb er die »Heidelberger Nudelfabrik«. Er war Stipendiat des Förderkreises Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg und lebt seit 2001 als freier Autor in Berlin.
HEINRICH: Ich wünsche mir, ich könnte fliegen. Hoch über der Stadt meine Runden drehen, unter mir all die vielen Menschen, ganz klein. Die Wolken mit der Hand berühren, mich im hellen Blau langsam auflösen, ganz langsam durchsichtig werden, und leicht, so leicht. – Statt dessen fahre ich U-Bahn. Auch gut. Ich mag es, wenn die gelben Züge durch die langen, dunklen Tunnel rasen. Vor allem in Kurven, oder wenn sich die Trasse senkt, hat man das Gefühl zu schweben und ist so sicher dabei. So behütet. Allerdings, ich habe kein Geld. Deswegen muss ich mich vor den Kontrolleuren in Acht nehmen. Ich bekomme natürlich Geld vom Amt, aber irgendetwas ist da schief gelaufen. Der Mann vom Amt war auch ganz komisch letztes Mal. Jörg, der immer mit zum Amt kommt, hat auf mich eingeredet, aber ich weiß nicht, Jörg ist auch manchmal etwas merkwürdig. Aber mein Freund ist er natürlich trotzdem. Auch wenn ich ihn nicht oft sehe, weil er doch nie Zeit hat, wegen seiner Frau und den Kindern. Ich bin jedenfalls schwer auf Zack. Kontrolleure erkenne ich sofort. – Weil ich mir nämlich alle Menschen im Zug ganz genau anschaue. Am liebsten mag ich Kinder, die sind lustig, und ganz alte Leute. Und schöne Frauen. Am liebsten die Kinder. Und die Frauen, wenn sie sehr, sehr schön sind. Wunderbare Engel. Ob sie wirklich fliegen können?
PAUL: Ich bin ihr einfach gefolgt. Die Rolltreppe hoch, durch das Bahnhofsgebäude, über den Platz am Taxistand vorbei zu »Kaufhof«, der eher einer Baustelle glich als einem Warenhaus. Zwischen Salattheke und Biogemüse nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach sie an. Ich ließ irgendeinen dämlichen Spruch los, von dem ich hoffte, dass sie ihn witzig fände, und als sie lachte, fragte ich, ob ich sie zum Kaffee einladen dürfe. »Ja gerne, wo denn?« Ich war sprachlos. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, und so schlug ich auf die Schnelle das Restaurant in der vierten Etage vor. – Worüber spricht man mit einer fremden Frau? Ich weiß es nicht. Ich plapperte einfach drauflos. Ich redete und redete, nur damit sie nicht einfach aufstehen und gehen konnte. Ich wollte ihr von Tina erzählen, und es war klar, dass das nicht ging. Ich wollte ihr etwas von mir erzählen, ohne dauernd über mich quatschen zu müssen. – Seit ich siebzehn war, hatte ich Künstler werden wollen. Ich meißelte Holzfiguren. Männer und Frauen in Lebensgröße. Meist mit hängenden Armen, manchmal mit den Händen in der Hosen- oder Manteltasche. Manche saßen auf Stühlen und Bänken. Grob zugehauen waren sie, wenn man näher hinschaute, konnte man genau sehen, wo ich den Beitel angesetzt hatte. Zwei oder drei hatte ich lediglich mit der Motorsäge bearbeitet, skizzenhafte Skulpturen nannte ich das. Das raue, klobige Holz verlieh ihnen Charakter. Sie waren kleine Persönlichkeiten. Jede Figur hatte ihre eigene Würde. Nur eines hatten all meine Holzmänner und Holzfrauen gemeinsam: Sie waren genau wie ich exakt 183 Zentimeter groß. Ich wollte sie auf Augenhöhe mit mir haben. Das war eine Frage des gegenseitigen Respekts.
BARBARA: Ich kam von einem Freier in der Warschauer Straße. Einem freundlichen älteren Herrn, dessen Frau vor ein paar Jahren gestorben war und der mich vor allem fürs Zuhören bezahlte. Ein witziger Kerl; vielleicht verbarg er hinter seinen Späßen aber auch nur seine Verzweiflung. Irgendwie mochte ich ihn. Aber heute war einer dieser Tage, ich fühlte mich schmutzig. Die Wohntürme am Frankfurter Tor krallten sich im grauen Himmel fest, und ich lief eilig die Treppe zur U-Bahn hinunter. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. – Ich kramte in meiner Tasche, und als ich den Kopf wieder hochnahm, sah ich den Mann. Er war groß und schlaksig und bewegte sich fahrig, flatterhaft. Er ging an der Bahnsteigkante auf und ab, den Kopf tief gesenkt, so dass seine schulterlangen Haare sein Gesicht verbargen. Jedes Mal bevor er wendete, legte er den Kopf in den Nacken, warf unentschlossen die Arme kurz hoch und drehte dann auf der Ferse um. Lautlos. Vor der gelben Notrufsäule blieb er schließlich stehen, beide Fußspitzen genau an der Bahnsteigkante, und ruckelte langsam hin und her. Als wollte er seine Schuhe an dem schwarzweißen Karomuster der Bodenfliesen ausrichten. Plötzlich warf er den Oberkörper nach hinten, lehnte sich weit zurück, bogenförmig, ruderte kurz mit den Armen, dann stand er wieder kerzengerade. Sekundenlang. Schließlich hob er das linke Bein, streckte es weit vom Körper ab, seitlich, wie ein Hampelmann. Zurück. Rechtes Bein. Ein Verrückter. Wieder weit nach hinten, die Füße immer noch an der Kante. Armrudern. Linkes Bein, rechtes Bein.
»Ein lesenswerter, unprätentiöser, lakonisch erzählter Roman über drei einsame Menschen im Berliner Großstadt-Sumpf …«
(Olga Hochweis, Deutschlandradio Kultur)
»… ein literarisches Kleinod …«
(Sarah Lippert, Luxemburger Land)
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