Die 21 Träume (aus »Anichtá Chartiá«, »Offene Karten«, Athen 1974) hat Elytis selbst aus seinen 30 Jahre umspannenden Traumprotokollen ausgewählt und zu einem dreiteiligen Traum-Stück komponiert. Das Thema der Loslösung von der Familie und der Selbstfindung als Dichter erscheint in vielerlei Brechungen (auch in sieben »Fragmenten«), am schönsten im symbolreichsten Traum »Borianna«, der mit dem Symbol »Dreizack und Delphin« auch eine tiefe Sinnbeziehung zu Elytis' Hauptwerk »To Axion Esti« aufweist. Elytis, der nach heftigen inneren Kämpfen in radikaler Abkehr von der Familie und jeder brotberuflichen Tätigkeit sich nur seinem dichterischen Schaffen widmete, offenbart in seinen Träumen, dass sein Beruf eine in ihm angelegte Berufung war, der er sich nicht entziehen konnte und wollte. Die 21 Träume charakterisieren, wie der Übersetzer und Interpret Günter Dietz aufzeigt, nicht nur den Dichter und seine Epoche, sondern bieten auch dem trauminteressierten Leser eindrucksvolle Beispiele für symbolische Traumarbeit und für das Einwirken eines »Höheren Selbst«.
Odysseas Elytis (1911–1996) wurde auf Kreta geboren. Bereits als Gymnasiast in Athen begann er mit dem Schreiben von Gedichten. Später brach er sogar sein Jurastudium ab, um sich ganz seiner Dichtung und Kunst (Tempera, Collagen) zu widmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Elytis durch seine Dichtungen »Helden- und Klagegesang auf den verlorenen Leutnant in Albanien« (1945) und »Albaniade« (1946/50) als Lyriker und Résistance-Dichter bekannt. Das 1959 erschienene Werk »To Axion Esti« verschaffte ihm dann offizielle Anerkennung und wurde sofort als sein Hauptwerk gefeiert. Spätestens seit ihm 1979 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, gehört Elytis zu den bedeutendsten Vertretern der griechischen Lyrik.
Ebenfalls erschienen:
To Axion Esti — Gepriesen Sei
O Ilios O Iliatoras — Die Sonne die Sonnenherrscherin
Der Übersetzer Günter Dietz, geboren 1930 in Karlsruhe, promovierte in Freiburg, unterrichtete in Athen, wo er auch Elytis kennen lernte, und veröffentlichte Lyrik, Übersetzungen, Vorträge und Aufsätze.
1. – Etwas musste geschehen, etwas sehr Erfreuliches. Es ist Abend, alle Leute sind auf die Straße gegangen, ein Stimmengewirr, ein Liedersingen, man bildet Gruppen, alle Läden sind geöffnet mit ihren hellen Schaufenstern. Doch bei mir, mein Herz ist dunkel. Sobald ich vorwärts gehe, allein in der Menschenmenge, hab ich das Gefühl, ein Verurteilter zu sein, ein Bestrafter, ein von der Gesellschaft Ausgestoßener, dem nicht die Gnade gegeben wurde, auch in das Geheimnis der andern einzutreten und sich zu freuen. Gar zu gern hätte ich einen andern gefragt, endlich erfahren, warum dieser ganze Trubel und was denn dieses Wort BORIANNA bedeute, das in aller Munde ist, das mir von allen Seiten entgegenkommt, fast als bilde es ein allgemeines Losungswort, das ich auch noch überall auf den Wänden geschrieben sehe oder auf großen Transparenten, die von den Häuserbalkonen hängen! Aber ich schäme mich, mein Gott, wie ich mich schäme! Und vor allem, denke ich, darf ich mich auf keinen Fall verraten und ein derartiges Unwissen enthüllen, die Leute könnten ganz wild werden und mich lynchen.
Nur mit Mühe komme ich vorwärts, werde weitergeschoben und kämpfe, um mir mit den Ellenbogen eine Bahn zu öffnen. Ich bin in Eile, ich begreife, dass ich mich verspätet habe und dass ich alle meine Kräfte einsetzen muss, um eine Stunde früher dort anzukommen, wo man mich erwartet (?). Vor einer großen Konditorei sehe ich 5 oder 6 Kinder, sie machen kein Geschrei, sondern halten so etwas wie große rote Bonbons in der Hand, befestigt an Stecken, und sie lecken daran. Die Bonbons sind riesig, größer als ihre Köpfe und leuchten, als sei ein rotes Lichtchen in ihrem Innern angezündet. In dem Augenblick, als ich an ihnen vorbeigehe, bewegt eines der Kinder rasch seine Hand in der Luft nach links und nach rechts und ich sehe, wie sich in der Dunkelheit mit roten Leuchtbuchstaben das Wort BORIANNA bildet. Ich bin nicht so sehr wegen der Bedeutung dieses Wortes ratlos, als vielmehr wegen seiner Orthographie. Mit zwei "N" – aus welchem Grund? Wie hat man das gefunden? [...]
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