Hugo: 1848
Victor Hugo:
»1848«
Ein Revolutionsjournal
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Jörg W. Rademacher
2002, geb., 344 S.
€ 25 [D] / € 25,70 [A] / sFr 36,10
ISBN 978-3-932245-48-0
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Buch

Mit den privaten Aufzeichnungen der Jahre 1830 bis 1885, die unter dem Titel "Choses vues" erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, hat Victor Hugo umfangreiche Beobachtungen hinterlassen, die ihn als Vorläufer der Moderne profilieren: Experimentierfreudig, nichts auslassend und von Zensur oder Literaturkritik unbekümmert, hat Hugo am ausführlichsten das Revolutionsjahr 1848 dokumentiert. Als Chronist dieses in politischer wie künstlerischer Hinsicht entscheidenden Jahres hat er seine unmittelbaren Erfahrungen in vielfältigen Darstellungstechniken wiedergegeben und mit seiner vitalen Kombination von Aphorismen, Dialogen, Gedichten, Impressionen, Kurzessays und Zitatcollagen aus dem Parlament die formalen Konventionen des 19. Jahrhunderts buchstäblich gesprengt. Im deutschen Sprachraum sind Hugos Zeitbetrachtungen noch zu entdecken. "1848 - Ein Revolutionsjournal" bildet gewissermaßen das dokumentarische Pendant zu Flauberts fiktiver Rekonstruktion des Revolutionsjahres, der "Education sentimentale". Victor Hugos 200. Geburtstag am 26. Februar 2002 bietet eine gute Gelegenheit, dem deutschsprachigen Publikum den heimlichen Chronisten des 19. Jahrhunderts in einer modernen Erstübersetzung vorzustellen.

Autor

Victor Hugo (1802-1885) wurde in Besançon geboren. Durch das Drama "Hernani oder Die kastilische Ehre" (1830) wurde er zum Führer der französischen Hochromantik, mit "Notre-Dame de Paris. 1482" (1831, dt.: "Der Glöckner von Notre-Dame") schrieb er den wohl bedeutendsten historischen Roman der französischen Literatur. Seit 1848 war Hugo ultraliberaler Deputierter in der Pariser Kammer. Nach der Errichtung des Zweiten Kaiserreichs floh er nach Jersey und Guernsey, wo er u. a. "Les Misérables" (1862; dt.: "Die Elenden"), einen Roman über die Geächteten der Gesellschaft, schrieb. Hugo wurde im Panthéon beigesetzt.

Auszug

Der Aufruhr im Juni wies vom ersten Tag an seltsame Züge auf. Er zeigte unvermittelt der verschreckten Gesellschaft ungeheuerliche und unbekannte Formen. Die erste Barrikade wurde schon am Freitagmorgen an der Porte Saint-Denis errichtet; sie wurde am gleichen Tag angegriffen. Die Nationalgarde trat dort entschlossen auf. Es waren Bataillone der ersten und zweiten Legion. Als die Angreifer, die über den Boulevard eintrafen, in Reichweite waren, löste sich aus der Barrikade eine furchtbare Salve und bedeckte das Pflaster mit Nationalgardisten. Die Nationalgarde, eher gereizt denn eingeschüchtert, stürzte sich im Laufschritt auf die Barrikade. In diesem Moment erschien eine Frau auf dem Grat der Barrikade, eine junge Frau, schön, zerzaust, schrecklich. Diese Frau, die ein Freudenmädchen war, hob ihr Kleid bis zum Gürtel und rief den Nationalgardisten in dieser grauenhaften Hurenhaussprache, die man stets übersetzen muss, zu: - Feiglinge, schießt, wenn ihr's wagt, auf den Bauch einer Frau! - Hier wurde die Sache entsetzlich. Die Nationalgarde zögerte nicht. Ein Rottenfeuer brachte die Elende zu Fall. Sie starb mit lautem Schrei. Dann folgte ein Schweigen des Grauens in der Barrikade und unter den Angreifern. Plötzlich erschien eine zweite Frau. Diese war jünger und noch schöner; sie war fast noch ein Kind, kaum siebzehn Jahre alt. Welch abgrundtiefes Elend! Wieder war es ein Freudenmädchen. Sie hob ihr Kleid, zeigte den Bauch und rief: - Schießt, Briganten! - Man schoss. Sie fiel, durchlöchert von Kugeln, auf den Körper der ersten.
So also begann dieser Krieg.
Nichts ist eisiger und düsterer. Grässliche Sache, dieser Heroismus der Niedrigkeit, darin alles aufbricht, was die Schwäche an Stärke birgt; und diese Zivilisation, von Zynismus angegriffen und sich durch Barbarei verteidigend. Auf der einen Seite die Verzweiflung des Volkes, auf der anderen die Verzweiflung der Gesellschaft.

© 2002 Elfenbein Verlag

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