Geständnis, Bekenntnis oder Beichte?
Mario de Sá-Carneiros Roman A Confissão de Lúcio in zwei Übersetzungen / Von Sven Limbeck

Das portugiesische Wort "confissão" umschreibt mit seinen Varianten des Bekennens, Gestehens und Beichtens ein ganzes Spektrum von Ich-Aussagen vor höheren Instanzen. In Mário de Sá-Carneiros erstmals 1913 erschienenem Roman, der nun in zwei deutschen Übersetzungen mit den alternativen Titeln Lúcios Bekenntnis und Lucios Geständnis (warum hier ohne Akzent?) vorliegt, will der Ich-Erzähler Lúcio Vaz v. a. erklären, warum er zehn Jahre für den Mord an seinem Freund Ricardo de Loureiro, den er nicht begangen hat, eingekerkert war. Lúcios schweigendes (Ein-)Geständnis der angeblichen Eifersuchtstat vor Gericht wird im Roman widerrufen. Der Erzähler schließt sich damit aber an die Reihe der großen Bekenner der eigenen (erotischen) Irrungen und Wirrungen (Augustinus, Rousseau etc.) an. Unmittelbarstes Vorbild für Sá-Carneiro dürfte Zolas Demimonderoman der Verfallenheit an eine Dirne, La confession de Claude (1865), gewesen sein.

Die Mitte des Romans bildet indessen nicht Lúcios, sondern Ricardos Bekenntnis, er könne nicht lieben, weil dies bedeute, den begehrten Menschen "zu besitzen! ... Doch einen Menschen unseres Geschlechtes können wir nicht besitzen". Indem er die Unmöglichkeit des körperlichen "Besitzens" unter Männern konstatiert, bekennt und negiert er Lúcio gegenüber seine Liebe im gleichen Atemzug. Das Wort "possuir" fürs Sexuelle deutet dabei auf eine typisch (aber nicht ausschließlich) mediterrane Konstruktion der Geschlechterordnung, wonach zwischen Mann und Frau aktive und passive Rolle klar verteilt sind. Und umgekehrt: Wer als Mann sich hingibt, der wird in der sexuellen Hierarchie zur Frau - im unlösbaren Widerstreit von leiblichem und sozialem Geschlecht zu einer Monstrosität, jener Unmöglichkeit, von der Ricardos Bekenntnis zeugt. Die diskursiven, nicht die körperlichen Wirklichkeiten verhandelt Sá-Carneiros Roman, unterläuft sie mit der Schilderung eines gesellschaftlichen Panoptikums der Artisten und Bohemiens und hebt sie mit dem Einbruch des Phantastischen gänzlich auf.

Statt Jura zu studieren, lernt der junge, schriftstellernde Portugiese Lúcio im Paris der Jahrhundertwende das high life kennen. Auf einem vom Autor mit den grellen Farben des Modischen, Artifiziellen und Widernatürlichen gezeichneten Ball begegnet er dem Dichter Ricardo de Loureiro und schließt eine intime Seelenfreundschaft mit ihm. Nach Monaten trauter Zweisamkeit und jenem besagten Bekenntnis kehrt Ricardo überraschend nach Lissabon zurück. Als sich die Freunde nach einiger Zeit der Trennung in Lissabon wiederbegegnen, ist Ricardo mittlerweile verheiratet. Doch Marta, die Gattin, umgibt von Anfang an ein Geheimnis. Sie erscheint Lúcio als eine unwirkliche Gestalt ohne Vergangenheit. Gleichwohl erliegt er beim täglichen Verkehr im Hause des Freundes ihrem Bann und beginnt ein Verhältnis mit ihr. Marta unternimmt keine Anstrengung, die Liaison vor ihrem Mann zu verheimlichen, ja dieser scheint die Beziehung duldend zu beobachten. Als Lúcio herausfindet, daß Marta weitere Liebhaber hat, ergreift er in glühender Eifersucht und Verachtung für den teilnahmslosen Ricardo die Flucht. Bei der Aussprache zwischen den Freunden nach Lúcios erneuter Rückkehr erklärt Ricardo seine Frau als sein eigenes Geschöpf, als eine Wunschprojektion seiner selbst, die in dieser Variante des Pygmalion-Mythos erst die ersehnte Vereinigung mit dem Freund ermöglichte. Zum Beweis erschießt er sie vor dessen Augen. Doch Marta ist plötzlich verschwunden, und tot zu Boden fällt Ricardo. Zurück bleibt Lúcio mit der Waffe.

Der Lyriker und Erzähler Mário de Sá-Carneiro war bis zu seinem Selbstmord 1916 im Alter von 25 Jahren einer der engsten Freunde von Fernando Pessoa und gilt neben diesem mit seinem schmalen Œuvre als der bedeutendste moderne Schriftsteller Portugals. Mit Recht, wie A Confissão de Lúcio beweist, wo auch die Beziehung zu Pessoa aufgearbeitet ist. Wer je den unwiderstehlichen und verführerischen Sog des Eingangskapitels von Zolas Nana verspürt hat, der wird empfänglich sein für die suggestive Kraft von Sá-Carneiros abgründiger Prosa. Als ein kriminalistisch-analytisch angelegtes Vexierspiel um Körper und Geschlechter, Gefühle und Identitäten schreibt der Roman sich in die europäische Moderne. Noch jedem postmodernen Lesetüftler wird er grenzenloses Vergnügen schenken. Spätestens wenn man bemerkt hat, daß der Schluß der Handlung exakt dem Ende von Wildes Dorian Gray nachgebildet ist, wird man sich mit Spannung auf die Suche nach weiteren eingeflickten Versatzstücken machen. Über achtzig Jahre nach seinem Erscheinen sind wir reif für diesen Roman, und es will mir scheinen, man könne sich künftig kaum auf der Höhe literarischer Bildung wähnen, ohne ihn gelesen zu haben.

Mário de Sá-Carneiro: Lúcios Bekenntnis; a. d. Port. u. mit e. Nachw. vers. von Berthold Zilly; Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997; geb., 136 S.; 19 Mark 80.
Mário de Sá-Carneiro: Lucios Geständnis; aus dem Port. u. mit einem Nachw. von Orlando Grossegesse; München: dtv 1997; kart., 158 S., 12 Mark 90.


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