Du kannst auch ganz anders
Ein letzter Brief von Thorsten Scheerer an Catherine David

Liebe Catherine,

wahrscheinlich sitzt Du längst im Zug nach Paris und freust Dich des Herzens, daß Du es trotz aller Unkenrufe hinbekommen hast, mit Deiner dX genug Geld einzunehmen, um Kassel, das Du ein "herausragendes Beispiel der modernen Groteske" genannt hast, schuldenfrei hinter Dir zu lassen, und der "nicht besonders schönen" Stadt einen Besucherrekord zu verschaffen.

Vor allem die Pressemenschen waren es, die Dir mit Schreibmaschine und Papier beweisen wollten, daß sie es selbst viel besser gewußt, gekonnt und gemacht hätten: Das "irritierend farblose Konzept" (metamorphosen 20) und "das Grau in Grau unentwegter Grübelei" (die tageszeitung) ergaben im Tenor jener eine "graue Schau ohne Highlights, die dem Diktat der Theorie folgt" (Die Woche) - "das Auge des Betrachters wird rigoros auf Diät gesetzt" resümierte Der Spiegel. Da durfte man eigentlich beruhigt sein, denn die banale Einsicht, daß Journalisten die Farbe Grau offenbar nicht gerne haben, ließ schon früh den hoffnungsvollen Schluß zu, daß die Lage gar nicht so schlecht sein konnte, wie die öffentliche Meinung darüber.

Du strebtest danach, die dX als "manifestation culturelle" zu präsentieren (Die Woche), als Neudefinition der documenta drei Jahre vor Jahrtausendtoresschluß. So gab es kaum Malerei zu bewundern, dafür sehr viele Installationen. Die Kunst fand kaum im öffentlichen Raum statt, denn Du sagtest, Parks seien nur für junge Paare gedacht, die knutschen wollten. Statt dessen schenktest Du uns Filmvorführungen, Kunstclips im Fernsehen und ein reichhaltiges Angebot im Internet. Erstmals kamen die Besucher nicht nur zur Kunst nach Kassel, sondern auch die Kunst zu den Besuchern ins Wohnzimmer, und die ebenfalls im Fernsehen übertragenen Vorträge im Rahmen von "100 Tage - 100 Gäste" rundeten die dX täglich basistheoretisch ab.

Ein ganz besonderer Augen- und Ohrenschmaus stellte Dein Projekt Theaterskizzen dar, welches in der ersten Septemberwoche an drei Abenden je 300 Gästen in sieben Stunden bis in die Nacht hinein auf beeindruckende Weise zeigte, zu welcher Pracht sich Deine dX der großen Theorien über Urbanisierung und soziale Geschichtsschreibung aufzuschwingen vermag. "Vorher informieren, gezielt buchen" solltest Du denjenigen entgegenhalten, die sich nun beschweren, von all dem nichts gewußt und erst recht nichts gesehen zu haben.

Jan Lauwers inszenierte Caligula von Albert Camus in der hell erleuchteten documenta-Halle und präsentierte darin in roher Skizzenform die Materialien, mit denen in seinem Fach gearbeitet wird: Stimme, Tanz, Kostüme, Musik und junge nackte Körper, was mich und alle anderen Männer sehr freute. Von da aus ging es auf den Platz vor der Halle, wo der erste von mehreren Teile von Michael Simons The Lady is not for burning aufgeführt wurde, in entfernt sichtbaren Kasseler Hochhausetagen gesprochen von Natascha Bonnermann. Heiner Goebbels inszenierte Landscape with a man being killed by a snake unter einer gerade Brücke in der Nähe des Bahnhofs als abstrakte Szene nach einem Motiv von Nicolas Poussin und war sich nicht zu fein, selbst musikalisch zu agieren und Hand an die Sampler zu legen. In der Bahnhofshalle folgte ein Monologstück, gesprochen von Graham Valentine, das von Christoph Marthaler und Anna Viebrock minimalistisch inszeniert wurde - dem Regisseur und der Dramaturgin des Jahres (Theater heute). Dem schloß sich eine inhaltlich spröde Inszenierung von Stanislas Nordey auf den Gleisen des Bahnhofs an, die jedoch durch ihre optische Präsenz zu überzeugen wußte, während sich die Damen am knapp bekleideten Hauptdarsteller visuell erfreuen konnten.

Danach war Pause, und wir Besucher wurden in die Bahnhofsangestelltenkantine geführt, wo es nicht nur eine katastrophale 50er-Jahre-Inneneinrichtung zu bestaunen gab, sondern auch anerkennend festzustellen war, daß Du Dich inmitten der 300 Besucher beim Würstchenessen pudelwohl fühltest, während über Video Der letzte Tango von Kassel eingespielt wurde.

In Koproduktion mit dem Berliner Podewil folgte mit Don't look now eine Doppelinszenierung über den Deutschen Herbst für zwei sich gegenüber sitzende Publikumshälften. Danach ging es in die Straßenbahn, vorbei an einer lichterloh brennenden Telefonzelle - der letzten Szene aus Michael Simons Stück - direkt ins Kasseler Hallenbad, wo Meg Stuart und Gary Hill mit Splayed mind out modernes Tanztheater in seiner höchsten Form aufführen ließen. Wieder zurück am Bahnhof, wurde zu guter Letzt auf dem Straßenbahnwartegleis 15 minutes to comply von Stefan Pucher und der Künstlergruppe Gob Squad aufgeführt. Der Versuch, mit einer Sony Playstation zur Musik von Marusha durch die Bildwelten Jeff Walls zu rasen, gibt im kleinen Maßstab einen realistischen Eindruck der sensationellen Inszenierung wieder.

So schön Du auch auf allen Fotos aussehest, meinte Jean-Christophe Ammann, dessen Jury Dich einst zur künstlerischen Leiterin der dX machte, so solle das nicht darüber hinwegtäuschen, daß da sehr wenig Sinnlichkeit sei. Vielleicht hat er da recht, ich kenne Dich nicht gut genug. Vielleicht warst Du auch nur unsere "Madame Eigensinn" (Das Sonntagsblatt), die uns zeigen wollte, was es heißt, in Zeiten, in denen Kulturetats zu ABM-Budgets zusammengeschrumpft werden, angesichts derer sich Opportunismus und Klüngeltum zu Schlüsselqualifikationen mausern, als weltenthobene Solitüde standhaft Position zu bewahren, wo andere mit feuchten Zeigefingern ausmachen wollen, woher der Wind am besten weht. Aber ganz bestimmt hast Du uns an diesen Septemberabenden gezeigt, daß auch Du uns mit künstlerischen Genüssen opulent verwöhnen kannst. Schade, daß Paris Dich wieder hat.

Es hört nie auf, Dein

Thorsten Scheerer


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