Bondy: Die invaliden Geschwister Egon Bondy:
»Die invaliden Geschwister«
Roman

Aus dem Tschechischen
von Mira Sonnenschein

1999, geb., 240 S.
€ 20 / € 20,60 / sFr 36
ISBN 978-3-932245-25-1

Textauszug
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Pressestimmen:

»Wer ›Die invaliden Geschwister‹ liest, einen wüsten Mix aus Satire, Märchen, Apokalypse und Eigenbau-Philosophie, bekommt eine Ahnung, woher die jungen Prager Wilden ihre Inspiration beziehen. ›Die invaliden Geschwister‹ sind kein wohlkonstruierter und leicht konsumierbarer Roman. Dafür ist ›Bondys Phantasie‹ einfach zu phantastisch; sie verquickt, ganz so wie die Ornamente auf dem Pullover einer Romanfigur, zahllose naive künstlerische Anachronismen wie etwa die gefiederte Schlange des Quetzalcoatl mit dem Logo der Firma Ford. Bondys Roman erzählt und zeugt von einer genuin böhmischen Hippie-Protestkultur, die gegen die Mächte des Sozialismus die Kräfte des Bunten in Stellung bringt. So funktioniert das Buch auch als Schlüsselroman über eine spezifische soziale Institution und ihrer Protagonisten.«
(Christoph Bartmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

»Der tschechische Philosoph und Underground-Dichter Egon Bondy hat zur Zeit der ›Normalisation‹ in ›Die invaliden Geschwister‹ seiner Version der heilsträchtigen Abkehr von politischer Engagiertheit Ausdruck gegeben und einen ausgedehnten Spaziergang in der Endzeitlandschaft des Kalten Krieges unternommen.«
Neue Zürcher Zeitung

»Egon Bondy, tschechoslowakischer Philosoph, Schriftsteller und Mitgestalter des Prager Frühlings, erzählt seine Geschichte mit Witz und sicherem Blick für die Absurdität der Situation. Mit ›Die invaliden Geschwister‹ bricht Bondy eine Lanze für die Selbstbestimmung des Menschen.«
Prager Zeitung


Demnächst erscheint: "Hatto"



Über das Buch

Egon Bondys utopischer Roman Invalidní sorouzenci (1974) spielt in einer düsteren Zukunft im Jahr 2600. Auf dem letzten Stück Festland, das von einer langsam ansteigenden Brühe aus Abfällen vorangegangener Generationen umgeben ist, leben neben den »Offizieren«, den »Heimgesuchten« und den »ordentlichen Bürgern« die sogenannten »Invaliden«, denen das Bewußtsein für ihre eigene Geschichte abhanden gekommen ist und die sich nun auf die Suche nach einem Paradies in vorzivilisatorischem Zustand machen.

Egon Bondy (geb. 1931) ist eher als Lyriker bekannt denn als Erzähler und Essayist. 1971 wurde er zu einer der intellektuellen Größen des Prager »Underground«. Bondys umfangreiches dichterisches Werk war bis zur »Sanften Revolution« von 1989 in der Tschechoslowakei nur als Typoskript im Umlauf.


Textauszug:

Als er die Anhöhe erklommen hatte, breitete sich die Hochebene vor ihm aus. Auf dem Acker standen drei Bäume. Der letzte Schnee taute auf dem Weg, der bereits voller Pfützen war. Gleich brockenweise blieb der Lehm an den Schuhsohlen kleben. Unter den Bäumen angekommen, stolperte er über eine Leiche. Sie befand sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung. Man konnte nicht mehr erkennen, ob sie männlich oder weiblich war. Als er mit dem Fuß gegen diesen Körper stieß, quoll Schlamm heraus. Es war die Leiche der Welt. Das Wetter war häßlich, der Himmel trüb. Nach einigen Kilometern erreichte er eine Kneipe. Da er die letzten Tage ununterbrochen und viel getrunken hatte, plagte ihn ein großer Katzenjammer.

Die Wirtin schenkte ihm ein Bier ein. Sie war dick, aber noch nicht alt. Ihr dauergewelltes, aber zerzaustes Haar war schwarz und glänzend. Nachdem er in der Ecke Platz genommen hatte, verschwand sie hinter einer verglasten Tür in der Küche. Unmittelbar darauf hörte man, wie sie sich dort mit jemandem paarte. Der Küchenschrank wackelte, Geschirr und Gläser schepperten. Die Stimme eines Mannes wurde laut und das Stöhnen der Frau. Zwei Beinpaare rutschten und scharrten über den Fußboden. Der kleine Dorfplatz hinter dem Fenster war menschenleer. Die Fenster in den kleinen Häusern waren dunkel, verhängt mit kleinen bunten oder gehäkelten Gardinen. In den Räumen mußte es selbst jetzt zur Mittagszeit schummrig sein. Nur aus einzelnen Schornsteinen stieg Rauch auf.

Als er weiterging und sich von der Mitte der Ebene entfernte, dachte er über die Leiche der Welt nach. Offensichtlich lag sie schon den ganzen Winter über dort. Es war nicht anzunehmen, daß man im Dorf nicht Bescheid wußte. Sie lag gleich hinter ihren Scheunen, direkt am Weg. Allem Anschein nach hatten sie ihr Schuhe und Mütze und bestimmt auch die Uhr abgenommen. Am Rande der Ebene, dort, wo es wieder abschüssig wurde, blieb er stehen. Durch den lichten Wald hindurch konnte er bei grauer, doch klarer Luft bis nach unten sehen. Der Wasserpegel schien wieder gestiegen zu sein. In den letzten Monaten war er unverändert geblieben, nur einige Meter Land hatte die Flut vorübergehend überschwemmt. Über Nacht waren die Wasser offensichtlich wieder gestiegen. Man konnte nur abwarten, ob sie wieder zum Stillstand kamen. Beinahe das gesamte Umland war auf diese Weise überschwemmt. Seltsam, denn der Hügel, auf dem er stand, war keinesfalls der höchste. Selbst hohe Berge wurden bereits vom Wasser überflutet. Es umhüllte sie wie ein wallender Umhang, der sich nicht ablegen ließ, und ihnen mit erstaunlicher Beständigkeit anhaftete und bis weit in die Ebene hinunter reichte. Vielleicht war dies hier das letzte Stück Festland. Drüben, unterhalb des Berges, lag eine Stadt. Dort wohnte er. In der Vorstadt standen schon einige Häuser unter Wasser. Aber sie standen ohnehin bereits leer. Einmal hatte er dort in der Nähe in einem Gasthof gesessen, der in einer Senke lag. Es war nicht auszuschließen, daß sie längst überschwemmt war. Deshalb entschied er sich für einen anderen Heimweg. So würde er es noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Diesseits des Hügels lagen unterhalb des Waldes noch zwei Dörfer, und in jedem gab es Bier.

© 1999 Elfenbein Verlag

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